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Archiv-Artikel

Dichter in Dünen VI Tatort in den Dünen

Der österreichische Schriftsteller Franzobel lebt und arbeitet auf Sylt. Er erzählt, was ihm als Inselschreiber widerfährt

„Ich habe sie doch nur gestreichelt, nur gestreichelt“, murmelte der Junge mit dem seltsam geschraubten Blick, als er schief lächelnd vorüberging. „Nur gestreichelt.“ Irritiert blickte die Kommissarin dem großen bloßfüßigen Blonden mit dem Kindergesicht hinterher. Ihr war, als hätte es aus seinem Mund geschäumt. Egal. Sie war hier, um Urlaub zu machen, und nicht, um sich mit komischen Käuzen zu beschäftigen, von denen es bei ihr daheim genügend gab.

Zwei Stunden später, nachdem man in den Dünen eine nackte weibliche Leiche gefunden hatte, musste sie sich doch damit beschäftigen. Die Sylter waren mehr über die Trampelpfade in den Dünen erbost, als über den Mord.

Weiß denn die Leiche nicht, dass ein abgeknickter Strandhafer abstirbt, schon ein schmaler Trampelpfad reicht, um gefährliche Wanderdünen zu ergeben, die dann den ganzen Ort, ja die ganze Insel gefährden? Hat denn diese Leiche keine Ahnung von den hiesigen Immobilienpreisen? Kann sie sich nicht wo anders ermorden lassen? Muss sie sich ausgerechnet in die Dünen legen? Geschieht ihr recht, dieser Banausin.

Die Kommissarin betrat die Gastwirtschaft und fragte nach dem Jungen mit dem verschraubten Blick im Kindsgesicht. Die Gäste schwiegen und verließen langsam aber bestimmt die Wirtschaft.

Nur die Wirtin blieb. Die kam aus Ostdeutschland und hatte den Gasthof von ihrem Mann übernommen, der sie wegen einer anderen verlassen hatte.

„Warum will mir keiner etwas über diesen bloßfüßigen Burschen sagen“, murmelte die Kommissarin, „so jemand muss hier doch auffallen. So jemanden muss man doch kennen.“ – „Weil es mein Sohn ist“, sagte die Wirtin, „unehelich, knapp nach der Wende.“

Beide schwiegen. Die Kommissarin verlor sich in den Fischernetzen und Leuchttürmen, mit denen die Gaststube drapiert war. „Das wird wohl doch etwas länger werden hier auf Sylt“, dachte sie, ließ sich ein Zimmer geben, klopfte den Sand aus ihren Schuhen und ärgerte sich, dass ihr Freund nicht an sein Handy ging.

Drei Tage war der jetzt bereits in Dänemark, doch gemeldet hatte er sich nie. Gut, vielleicht hatte er keinen Empfang? Vielleicht steckte aber auch ganz etwas anderes dahinter? Sie schrieb eine SMS und dachte an die evolutionären Folgen dieser Handy-Kommunikation. Ohne SMS wären die Daumen ganz verkümmert - wie bei den Hunden oder Rehen, nun wurden sie trainiert. SMS war Daumensport.

Im Fernsehen ging gerade ein alter Tatort zu Ende. Auf allen anderen Kanälen lief Fußball oder Werbung. „Aus Nächstenliebe, du Arsch!“ schrie eine preisverwundete Stimme für einen Elektronikhändler.

Sollte auch der bloßfüßige Junge nur aus Nächstenliebe gemordet haben? Am nächsten Morgen befragte sie den leicht debilen Sohn der Wirtin, der nichts weiter sagte als, „ich habe sie doch nur gestreichelt, nur gestreichelt.“

Die Kommissarin sah seine weichen Hände, seine mozzarellaweiße Haut. War dem ein Mord zuzutrauen? Der Polizistin tat die Wirtin leid. Zuerst die DDR, später die Sache mit dem Mann, dann war ihr Reetdach vom Funkenflug einer Zigarette abgebrannt und nun verlor sie noch den Sohn.

Es gibt schon Schicksale auf der Welt, traurige Schicksale. Aber selbst wenn ihr noch Beweise fehlten, war es ihre Pflicht, den Mörder zu verhaften. Alles andere wäre unverantwortlich.

Als sie den Bloßfüßigen abführen wollte, sprang seine Mutter dazwischen und bat, den Sohn zu verschonen, der sei unschuldig, könne niemandem etwas zuleide tun. Sie selbst sei die Mörderin, ja, sie, aus Eifersucht, weil sie es nicht ertragen hatte können, dass er eine andere Frau begehrte, sich beim Leuchtturm heimlich mit ihr traf, sie streichelte. Sie selbst sei ihm zuvorgekommen, habe der Verabredeten aufgelauert und sie dann kaltblütig erwürgt. Natürlich erkannte die Kommissarin sofort, dass die Wirtin mit diesem Manöver nur ihren Sohn retten wollte. Außerdem war die Leiche nicht erwürgt worden, sondern erstickt. So hatte die Wirtin das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollte. Der Sohn war nicht mehr zu retten. Etwas später würde dann herauskommen, dass der Mörder ganz jemand anderer war, ein Nachtclubbetreiber namens Wiesengrund Wiesen aus dem badensischen Wiesholm.

Das Opfer war eine ukrainische Prostituierte, Svetlana Zweschpenfleckowa. Der Fall schien gelöst, da bekam die Kommissarin ein SMS von ihrem Freund in Dänemark: Du spielst gerade in einem ziemlich schlechten Film mit. Sein Name? Tatort Sylt.