: Diamant mit kleinen Fehlern
Spielertrainer Ruud Gullit will dafür sorgen, daß aus dem FC Chelsea nach Jahren des Mittelmaßes endlich eine absolute Spitzenmannschaft wird ■ Aus London Mike Ticher
Die Sache, die mir bei diesem Team am meisten Sorgen macht, ist, daß wir zu viele dumme Tore kassieren.“ Dies sagte Ruud Gullit, nachdem sein FC Chelsea im Dezember in Sunderland kläglich mit 0:3 untergegangen war. Am Neujahrstag im Stadion Stamford Bridge wurde das einzige dumme Tor vom Premier-League- Spitzenreiter FC Liverpool kassiert, und Chelseas beeindruckender 1:0-Sieg bewahrte den siebten Tabellenplatz, bei einem Spiel weniger sieben Punkte von der Spitze entfernt. Es ist lange her, daß Chelsea in der zweiten Saisonhälfte noch um den Titel mitspielte. Der Klub war immer einer von denen, die ihren Ansprüchen selten gerecht wurden. Obwohl oft mit großen Spielern ausgestattet, hat er in seiner 90jährigen Geschichte nur eine Meisterschaft (1955), einen FA-Cup (1970) und einen Europacup der Pokalsieger (1971) vorzuweisen.
Spielertrainer Gullit ließ sich durch die eine brillante, von Gianfranco Zola inspirierte Vorstellung gegen ein indisponiertes Liverpool nicht zu dem Schluß verleiten, daß sein Chelsea-Team jetzt ein fertiges Produkt sei. „Es ist wie ein roher Diamant“, sagte er danach. „Wir müssen die ganze Zeit daran arbeiten, um es in die richtige Form zu bringen.“ Das erste Mal seit August hatte Chelsea bei einem Heimspiel kein Gegentor zugelassen. Viel zu oft war Gullit zuvor über die Fähigkeit seiner Mannschaft verzweifelt, ihr eigenes Grab zu graben. „Wir waren nachlässig, es war dumm“, gab er zu, als kurz nach Weihnachten ein Tor in der Nachspielzeit einen Punkt an der Stamford Bridge für Sheffield Wednesday rettete. „Die ersten beiden Tore und das letzte waren lächerlich“, sagte er nach Chelseas fast komischer 2:4-Niederlage gegen Wimbledon im Oktober.
„Dumm“ und „lächerlich“ sind keine Worte, die man ohne weiteres mit Gullit in Verbindung bringt. Als Spieler ist er mit 34 immer noch großartig, egal ob als Stürmer, im Mittelfeld oder als Libero – und er hat all diese Positionen während der Saison bereits gespielt. Als Fernsehkommentator verdiente er sich für seine scharfen und oft leidenschaftlichen Analysen Respekt und Sympathie bei der Europameisterschaft 1996. Als Manager ist das Urteil aber noch nicht gesprochen.
An der Oberfläche hat Gullit in Chelsea alles geändert, seit Glenn Hoddle ihn im Mai 1995 in den Verein holte. Nachdem er diese Saison den Managerposten von Hoddle übernommen hatte – eine Entscheidung, die dem Klub mehr oder weniger von den Fans aufgezwungen wurde –, hat er Gianluca Vialli, Zola und Roberto Di Matteo ebenso dazu verlockt, sich ihm anzuschließen, wie den französischen Libero Frank Leboeuf, der sich schnell zum Publikumsliebling entwickelte. Inzwischen ist man weit entfernt von den frühen 80ern, als Chelsea fast in die 3. Division abgestiegen wäre, am Rande des Bankrotts taumelte und den verdienten Ruf genoß, einige der gewalttätigsten und rassistischsten Fans des Landes zu besitzen.
Zum größten Teil dank des Reichtums des millionenschweren Gönners Matthew Harding, der im Oktober auf dem Rückweg von einem Spiel bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kam, hat Gullit mehr Geld zur Verfügung als jeder Chelsea-Manager vor ihm, und er hat es bislang weise ausgegeben. Manchmal war Chelsea in dieser Saison superb, spielte eleganten, kontrollierten und eindeutig kontinentalen Fußball. Alle Zugänge aus dem Ausland waren bis zu einem gewissen Grad erfolgreich, vor allem aber der brillante Zola, der in seinen ersten neun Spielen fünf Tore geschossen hat.
In anderen Bereichen scheint Gullit allerdings nichts geändert zu haben. Gullit ist stets abgeneigt, die Taktik seiner Mannschaft zu diskutieren, aber in Wahrheit unterscheidet sich sein Ansatz nicht sehr von dem seines Vorgängers Hoddle. Chelsea spielt in der Regel mit drei Leuten in der zentralen Abwehr, zwei Außenverteidigern und nur einer Spitze (Vialli, wenn er fit ist). Der wahre Unterschied liegt nicht in der Formation, sondern in der Qualität der Spieler, die Gullit verpflichten konnte.
Ebenfalls zweifelhaft sind seine Fähigkeiten in der Menschenführung. Die ganze Saison über waren die Zeitungen voll von Geschichten über Unruhe bei den englischen Spielern an der Stamford Bridge, und obwohl einige inzwischen langfristige Verträge unterschrieben haben, sind drei andere gegangen, darunter der beste Torschütze der vergangenen Saison, John Spencer. Bisher hat Gullit drei Italiener, einen Franzosen und einen Norweger gekauft, aber keine Briten. Sein Ansatz unterscheidet sich deutlich von dem des einzigen anderen ausländischen Trainers, der zur Zeit in England arbeitet, Arsenals Arsène Wenger, der offensiv die „Englishness“ seines Teams preist.
Aber vor allem sind Chelseas alte psychologische Fehler nach wie vor vorhanden: Unbeständigkeit, das Fehlen des „Killerinstinkts“, die Gewohnheit, „lächerliche“ Tore zu kassieren. Fünf von zehn Heimspielen endeten in dieser Saison unentschieden, vier, nachdem Chelsea in Führung lag, und zwei durch Ausgleichstore in der letzten Minute. Niederlagen bei schwachen Teams wie Leeds (0:2) und Sunderland (0:3) im Dezember erlaubten es den Medien, die alten Stereotypen über Klubs aus dem Süden auszubreiten, die zu Hause hübschen Fußball spielen, aber an einem frostigen Winternachmittag im Norden eingehen.
Gullits Reaktion auf solche Rückschläge weist nervtötende Ähnlichkeiten zu einem ärgerlichen Charakteristikum auf, das er auf dem Platz zeigt. Wenn ein Spielzug danebengeht, steht er oft mit den Händen auf den Hüften da, schüttelt theatralisch den Kopf oder streckt ungläubig die Arme nach oben. So erweckt er den Eindruck, daß es ihn quält, mit Leuten zu spielen, die nicht seinen Standard erreichen. Was immer passiert, nichts ist sein Fehler.
Wenn man Gullit seinen schönen Fußball spielen sieht, ist es leicht, ihm jede Arroganz und Selbstgerechtigkeit zu verzeihen, aber es ist eine Haltung, die sehr gut zu Chelseas etwas paranoider Weltsicht paßt. Wie anderswo vielleicht Schalke 04 oder Zolas erster Klub, der SSC Neapel, glauben sie in Chelsea, daß die Welt gegen sie ist und daß sie irgendwie um den Erfolg auf dem Platz betrogen worden sind, der einem solch großartigen Klub rechtmäßigerweise zustehen würde.
Vielleicht braucht es etwas richtigen Erfolg, um diese Last auf den Schultern loszuwerden. Wenn Gullit das erreichen kann, wird man ihm sicherlich alles vergeben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen