: Deutschland
Frust: Der Rest ist Schweigen
Vorlesungsverzeichnisse in Deutschland – vor allem die der Geisteswissenschaften – lesen sich wie Speisekarten. Liebesverrat – die Untreuen in der Literatur; Die Geschichte der Prostitution; Ovid verwandelt – Erotische Lyrik der Renaissance. Hört sich toll an, aber schmeckt es auch?
Man überlegt, welche Veranstaltung man besuchen sollte, stimmt einzelne Kurse wie Gänge aufeinander ab und wartet aufs Essen – um am Ende enttäuscht, meist noch hungrig, nach Hause zu gehen. Nach knapp zwölf Sitzungen und ermüdenden Referaten ist man oft genauso schlau wie zuvor. Aber macht nichts: Viele Dozenten behandeln nach vier Semestern noch einmal exakt dasselbe Thema. Vielleicht erfährt man dann mehr.
In den Ferien wird die Hausarbeit geschrieben, meist in verzweifelten Nachtschichten. Wer Probleme hat, hat Pech, denn jetzt bieten die Professoren durchschnittlich eine Sprechstunde pro Monat an, und die ist oft lange im Vorraus ausgebucht. Kein Wunder, dass viele Hausarbeiten zwar angefangen, aber nie fertig geschrieben werden.
Allerorten wird gejammert, von den Lehrenden wie von den Studierenden. Die aber sind oft selbst Schuld an ihrem Unmut: wenn sie im Seminar auch die simpelste Frage des Dozenten mit geschlossenem Schweigen beantworten; wenn sie nach dem Referat eines Kommilitonen nichts tun, um eine Diskussion in Gang zu bringen; oder wenn sie duldsam jene selbst ernannten studentischen Experten über sich ergehen lassen, die irgendwann einmal ein großartiges Hegel-Seminar besucht haben und ihr weltbewegendes hochgeistiges Wissen nun niemandem mehr vorenthalten wollen – und damit die gesamte Veranstaltung sprengen. Nach Seminarende wird dann umso mehr geredet: Geht jemand in die Mensa? Hat jemand eine Kippe?
Spätestens nach einem leicht frustrierenden Grundstudium beginnen die meisten deutschen Studenten mit lukrativen Nebenjobs. Hier gilt die Regel: Je dämlicher die Aufgabe, desto größer der Verdienst. Das geht natürlich auf Kosten des Studiums, das immer mehr nur mitgeschleift wird. Viele Studierende lernen die Grundlagen ihres Fachs erst bei der Examensvorbereitung in selbst organisierten Lerngruppen, allein oder in teuren Repetitorien.
Sicher, es gibt hervorragende Dozenten und sehr anregende Studierende. Aber kennen gelernt hat den hier dargestellten Frust mit Sicherheit schon jeder Studierende in Deutschland.
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