: Deutsche Malaisen
■ Norbert Elias „Studien über die Deutschen“
Wie lassen sich Erscheinungen der jüngeren deutschen Zeitgeschichte und deutsche Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen einer Zivilisationstheorie interpretieren? Wie läßt sich vor allem der nationalsozialistische „Zivilisationsbruch“ erklären, der Elias ins Exil zwang und seine Mutter in die Gasöfen von Auschwitz? Um diese Fragen kreisen die Reflexionen von Norbert Elias in diesen speziell den Deutschen gewidmeten Arbeiten.
Die in dem vorliegenden Band unter dem Titel „Studien über die Deutschen“ gesammelten Beiträge sind, unabhängig voneinander, in größeren Zeitabständen etwa seit Anfang der sechziger Jahre entstanden. Ein erster theoretischer Rahmen wird entworfen mit der Diskussion „europäischer Verhaltensstandards im 20.Jahrhundert“. Wir können, so die Zentralthese in dieser Einleitung, in allen europäischen Ländern einen Prozeß zunehmender Informalisierung des Verhaltens registrieren. Elias belegt dies am Beispiel des Geschlechter- und Generationenverhältnisses. In Deutschland aber setzt dieser Befreiungsprozeß aus formalisierten Alltagsritualen und strengen Gesellschaftshierarchien erst spät, letztlich mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus ein. Die wilhelminische Zeit hat für Elias geradezu paradigmatische Bedeutung bei der Herausbildung bis in die Weimarer beziehungsweise sogar bis in die Bonner Republik hinein gültiger Verhaltensdispositionen des „tonangebenden Bürgertums“ oder der „guten Gesellschaft“. Elias untersucht dies am Beispiel von Duellpraktiken und Sozialisationsriten der Burschenschaften. „Die Entwicklung des Kanons der schlagenden Verbindungen in der Periode des zweiten Kaiserreichs war insgesamt ein Schub in der Richtung auf eine Zunahme und Betonung der rituellen, formalisierten Gewalttat... Um im Leben seinen Mann zu stehen..., muß man hart sein. Sowie man sich schwach zeigt, ist man verloren.“ Am Beispiel der Aktivitäten des Freikorps im ersten Drittel des Jahrhunderts und des Terrorismus der Bonner Republik diskutiert Elias die praktischen Auswirkungen fehlender Loyalitäten gegenüber dem staatlichen Gewaltmonopol. Romantisierung der Gewalt - auch das ist für Elias ein verbreitetes Phänomen jüngerer deutscher Kulturgeschichte. Über eine lange, anläßlich des Eichmann-Prozesse 1960/61 geschriebene Reflexion der Entstehungsbedingungen des Nationalsozialismus kommt Elias dann abschließend zu „Gedanken über die Bundesrepublik“, geschrieben 1977 vor dem Hintergrund der „Sympathisantenverdächtigung“ im Umfeld des RAF-Terrorismus.
Unzivilisierte, kriegerische Einstellungen unter den Deutschen lassen sich für Elias zurückverfolgen bis in das 17.Jahrhundert, bis in die Zeit des „Dreißigjährigen Krieges“. „Im Rahmen der deutschen Entwicklung haben diese 30 Kriegsjahre den Charakter einer Katastrophe. Sie hinterließen permanente Spuren im Habitus der Deutschen... Für Deutschland war dieses Jahrhundert eine Zeit der Verarmung, auch der kulturellen Verarmung, und einer zunehmenden Verrohung der Menschen.“ Ihre soziale Entsprechung haben diese kriegerischen Traditionen in der Dominanz des Militäradels im Ansehen der Deutschen während der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. „In Deutschland (...) überwucherten auf verschiedenen Ebenen militärische Modelle des Befehlens und Gehorchens die städtischen Modelle des Verhandelns und Überredens.“
Dieser Mangel an Civilität und Selbstbewußtsein des deutschen Bürgertums ist - nicht nur für Elias - ein ganz zentrales Moment zur Erklärung der Ursachen des „Zivilisationsbruches“ in der Zeit von 1933-1945. „Nichts berechtigt zu der Annahme, daß der Aufstieg einer Bewegung wie der nationalsozialistischen notwendig und unvermeidlich aus der deutschen Nationaltradition folgte. Es war aber, wenn auch keine notwendige, so doch gewiß eine der möglichen Entwicklungen dieser Tradition. In mancher Hinsicht trug der Nationalsozialismus ganz ihr Gepräge.“
Ohne Bezug auf den nationalsozialistischen Zivilisationsschock sind Besonderheiten der bundesrepublikanischen Kultur schwer zu interpretieren. Welches Phänomen man auch erklären will, die Fäden zurück zur Nazizeit sind überall auffindbar.
So reicht es auch für einen Sozialwissenschaftler oder „Menschenwissenschaftler“ nicht aus, zum Beispiel den politischen Terrorismus lediglich als Irrweg und inhuman zu verurteilen. Elias sieht mit Recht Zusammenhänge zwischen der Radikalisierung der deutschen Studentenbewegung und der nicht aufgearbeiteten Zeit des Nationalsozialismus.
Von der deutschen, auf jeden Fall nationalsozialistischen „Endsiegs„-Mentalität haben sich die RAF-Terroristen nie emanzipiert. Unversöhnlichkeit und Unzivilisiertheit zeichnen aber nicht nur die deutschen Terroristen, sondern auch den in der BRD vorherrschenden Umgang mit intellektuell und habituell Abweichenden aus. „Geduldiges Ansichhalten, Mäßigung, Humanität und besonderes Verständnis für Menschen, die anderer Meinung sind, haben nur selten zu den starken Seiten deutscher Führungsschichten gehört.“
In diesem unversöhnlichen deutschen Klima der siebziger Jahre sieht Elias ein beängstigendes Szenario aufziehen: „Die Drohung mit der Revolution und die Furcht vor ihr, die Drohung mit dem diktatorischen Polizeistaat und die Furcht vor ihm spielen also ihr teufliches Spiel miteinander. Es ist schwer zu sagen, ob die Dynamik dieser Schraubenbewegung bereits den Punkt erreicht hat, von dem es keine Rückkehr mehr gibt. Ich hoffe, daß es noch an der Zeit ist, die Bewegung in diese Richtung zu bremsen. Wenn nicht - armes selbstzerstörerisches Deutschland.“
Carl-Wilhelm Macke
Norbert Elias: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20.Jahrhundert, Suhrkamp Verlag, 555 Seiten, 58 DM
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