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Deutsche Außenpolitik, war da was?

Andrei S. Markovits und Simon Reich analysieren das „deutsche Dilemma“ zwischen der Angst der Nachbarn und der gleichzeitigen Forderung, sich wie eine Großmacht zu verhalten. Gefragt ist Pragmatismus  ■ Von Stefan Reinecke

Die deutsche Vereinigung ist bald schon ein Jahrzehnt her, und es überrascht, daß unsere meinungs- und diskursfreudige Öffentlichkeit dazu bisher kaum wesentliche Publikationen hervorgebracht hat. Nach 1990 wurden die Großthesen, links wie rechts, nach und nach zu den Akten gelegt. Denn weder von einem „Vierten Reich“ noch von dem von rechts herbeigesehnten normalisierten Deutschland war viel zu sehen. Die Tagespolitik bewegt sich eher in den gewohnten altbundesrepublikanischen Bahnen. Oder doch nicht?

Die Frage nach dem neuen bundesrepublikanischen Selbstverständnis ist nun wieder aufgelegt worden. Sie heißt jetzt volltönend: Debatte um die Berliner Republik. Unter diesem Label läßt sich trefflich im Ungefähren spekulieren. Sogar eine „Generation Berlin“ hat die neuerdings aufs Trendsetting umgestiegene Zeit ausgemacht. Den Begriff haben wir schon – ob er etwas bedeutet, wird sich schon zeigen.

In dieser Lage ist das Buch von Andrei S. Markovits und Simon Reich eine brauchbare Handreichung. Es unternimmt den Versuch, die luftige Debatte zu erden und, einigermaßen systematisch, zu verstehen, worum es geht. Es fragt, wie die NS-Vergangenheit das deutsche Selbstbild prägt, wie das „kollektive Gedächtnis“ die Außenpolitik einfärbt, es ventiliert die wirtschaftliche Rolle Deutschlands in der EU und entwirft in einem soliden Überblick das Bild der Bundesrepublik im Ausland – von den USA bis Ungarn. Deutschland ist seit 1990 objektiv mächtiger geworden. Die Bundesrepublik war zuvor außenpolitisch eine Art größere Schweiz, stets darauf bedacht, nicht anzuecken und die Reintegration in die Völkergemeinschaft, die ihr nach 1945 (unverdient) rasch gelang, nicht aufs Spiel zu setzen. Damit ist es seit 1990 de facto vorbei. Deutschland ist eine, wenn nicht die europäische Hegemonialmacht. Trotzdem weigert sich die Bundesrepublik, so die zentrale These von Markovits/Reich, ihre neue Rolle zu akzeptieren. Deutschland ist ökonomisch führend, seine kleineren Nachbarn sind wirtschaftlich direkt von ihm abhängig. Deutschland profitiert ökonomisch, anders als Frankreich und Großbritanien, eindeutig von der EU. Zudem geben die Deutschen in Brüssel oft den Ton vor, in Osteuropa sind sie Handelspartner Nummer eins. Die Macht, so Markovits/Reich, wächst dem neuen Deutschland gewissermaßen unabhängig von seinem Willen zu.

Markovits hat Anfang der 90er ein recht euphorisches Standardwerk über die Grünen geschrieben (Grün schlägt Rot). Auch dieses Buch ist aus dem Blickwinkel US- amerikanischer Linksliberaler geschrieben, die politisch zu Rot- Grün neigen, vor allem aber in der Tradition des Pragmatismus verwurzelt sind. Macht, die nicht gebraucht wird, so eine Grundthese, verschwindet nicht, sie wuchert. Deutschland muß daher seine Macht bewußt nutzen. Die deutsche „Machtvergessenheit“ fokussiert das Buch an drei Beispielen. 1991 erkannte die Bundesrepublik, die europäischen Absprachen lässig ignorierend, Kroatien und Slowenien an – und beschleunigte und verschärfte damit den jugoslawischen Krieg. Dies war der erste, grobschlächtige Versuch, die neue Rolle außenpolitisch auszuprobieren. Zweitens, so die Autoren, hat das Stabilitätsdiktat der Bundesbank in der Euro-Vorbereitung gezeigt, daß Deutschland in zentralen Fragen der EU seinen Willen aufzuzwingen vermag. Interessanterweise wurde dies in der deutschen Öffentlichkeit selbst erst spät bemerkt. Mitte der 90er hatte es Bundesbank-Chef Tietmeyer in Paris, Lissabon und Rom schon zu zweifelhafter politischer Berühmtheit gebracht – hierzulande galt er damals noch als ein Finanztechnokrat, den man nicht unbedingt kennen mußte.

Das Machtbewußtsein, das Markovits/Reich einfordern, ist wörtlich zu nehmen: Deutschland mangelt es nicht an der Fähigkeit, politisch und ökonomisch seine Interessen durchzusetzen, wohl aber daran, dies bewußt und der Folgen eingedenk zu tun. Darin besteht auch der gravierende Unterschied zwischem dem Plädoyer für mehr Machtbewußtsein, das die Autoren vorschlagen, und dem rechtskonservativen Normalisierungsbegriff, wonach Deutschland seine NS- Vergangenheit im Museum entsorgen, sich von Kohls sentimentalem Europafirlefanz verabschieden und endlich wieder unbeschwert Großmacht sein dürfen soll.

Als drittes Beispiel führt das Buch den bundesdeutschen Pazifismus ins Feld. Eher zwischen den Zeilen geben Markovits/Reich zu erkennen, daß sie die linksgrüne Weigerung, den Bundeswehreinsatz in Bosnien zu akzeptieren, für fatalen Isolationismus halten. Die Folie für diese Einschätzung scheint die berechtigte Abneigung gegen den US-amerikanischen Isolationismus der Zwischenkriegsphase zu sein – doch der grüne Pazifismus ist etwas anderes. Auch wenn man ihn für politisch falsch hält, ihn adelt das Motiv: der Versuch, die richtige Schlußfolgerung aus der deutschen Terrorgeschichte zu ziehen.

„Das deutsche Dilemma“ ist in vielem so vage, manchmal widersprüchlich wie die Lage, die es beschreibt. Das prägt auch die verschlungenen Argumentationslinien. Die Berliner Republik werde die Politik der Bonner Republik fortführen, heißt es immer wieder. Gelegentlich, etwa mit Blick auf die neue Europaskepsis in der SPD, scheint es, als wären die Autoren ernsthaft besorgt – dann folgt wieder der beruhigende Verweis, wie stabil die bundesdeutsche Demokratie ist. Und einmal – gewissermaßen als Zweifel des Zweifels – fragen sie sich, ob das Loblied auf die deutsche Demokratie, das die politischen Eliten in Washington, Rom oder Budapest so routiniert anstimmen, nicht auch eine Art Abwehrzauber ist.

Bemerkenswert ist auch Joschka Fischers Vorwort, das den Blick fürs Historische weitet. Die beiden Weltkriege, so Fischer, resultierten aus der ungelösten deutschen Frage. Der deutsche Hegemonialanspruch gründete nach der Niederlage der Demokraten 1848 „allein auf dem nackten Machtanspruch“. Deutschland wollte herrschen, war aber dazu nicht in der Lage, weil es „kulturell antimodern und politisch gegen die Freiheit gerichtet“ war (Fischer). Die „bestialische Rücksichtslosigkeit“, mit der Deutschland zweimal nach der Macht griff, findet heute in dem fortwährenden Mißtrauen gegenüber der Bundesrepublik ihr Echo – in Washington, Rom und Budapest. Deshalb, so Fischer, ist deutsche Außenpolitik stets in einer Double-bind-Lage: Spielt sie Führungsmacht, mobilisiert dies historische Ängste – läßt sie es, wird ihr dies als mangelndes Engagment und Isolationismus ausgelegt.

Markovits/Reich wagen keine Generalthese, wohin es gehen wird. Nach der Demokratie gilt es für die Bundesrepublik nun, „angemessene Machtausübung“ zu lernen, so das Resümee. Ja, schon. Wie es gelingen kann, die zivilen, erfreulichen Tugenden der alten Republik – die zukünftig verblassenden Ergebnisse eines historischen Lernprozesses – wetterfest für die neue zu machen, das können auch die Autoren nicht näher beschreiben. „Das deutsche Dilemma“ entwirft keine Wegbeschreibung, kein Geländer für die zukünftige Bundesrepublik. Aber es umreißt präzise die politischen, institutionellen, wirtschaftlichen und mentalen Koordinaten, in denen sich Deutschland bewegen wird. Und das ist schon ungemein viel mehr, als sich über das einheimische Berliner-Republik- Gemurmel sagen läßt.

Andrei S. Markovits/Simon Reich: „Das deutsche Dilemma. Die Berliner Republik zwischen Macht und Machtverzicht“. Mit einem Vorwort von Joschka Fischer. Alexander Fest Verlag, Berlin 1998, 366 Seiten, 36 DM

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