: „Det janze Zeug bleibt hier!“
■ Der Versuch, die „Habseligkeiten“ Alexander Schalcks in den Westen zu schaffen, ist erstmal gescheitert / Wie die „dusseligen Golliner“ doch noch zu ihrer Revolution kamen
Von Claus Christian Malzahn
Gollin (taz) - Familie Staehler saß in bewegter Zeit abends vor der Glotze, um sich die Bilder von der Revolution draußen im Lande anzuschauen. Da wurde plötzlich einer eingeblendet, den sie kannten. Dem Mann gehörte ein riesiges Grundstück am See, von Maschendraht umzäunt, von Dobermännern bewacht. Meistens tauchte er an Wochenenden in der 150-Seelen-Gemeinde auf, oft standen Lieferwagen aus dem Westen vor der Tür. Wie er zu seinem Besitztum gekommen war, wußte nicht mal der Bürgermeister. Der Mann, so sprach die Stimme aus dem Fernseher, heiße Alexander Schalck -Golodkowski. Nach ihm werde gefahndet, weil er sich am sozialistischen Volkseigentum vergriffen habe. Nun wußte Familie Stehler endlich bescheid. Das „hohe Tier“ vom Waldgrundstück hat in Gollin seither keiner mehr gesehen. In den Köpfen der Golliner ist er freilich noch da.
Am vergangenen Dienstag war der Devisenschieber wieder gegenwärtig. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich vor Ort die Nachricht, das Mobiliar solle abtransportiert werden. Nachdem ein weißer Möbelwagen vor die Datsche gefahren war, schwang sich Bürgermeisterin Hasse auf ihr Fahrrad, um nach dem Rechten zu sehen. Sie vermutete Einbrecher und fand den Kreisstaatsanwalt. Der hatte das Siegel aufgebrochen und packte beim Umzug, der vom Schwager Schalck-Golodkowskis organisiert worden war, kräftig mit an. Die Rechtsgrundlage seines Handelns konnte der Mann nicht erklären. Frau Hasse begriff, zögerte - und trommelte dann das Volk zusammen.
Während die Möbelpacker von Sichtblenden aus Pappe vor Kameras und neugierigen Blicken geschützt, weiter Meisner Porzellan, Bilder, Kleidungsstücke und Möbel verluden, blockierten am späten nachmittag rund dreißig Golliner den schmalen Zufahrtsweg zum Grundstück. Ein Wartburg und ein Trabant versperrten den Weg, die Bürger verlangten Auskunft. Das sei alles nur Kleinkram und persönlicher Besitz, „Bodyslips und so was“, behauptete der Staatsanwalt. Ein ganzer Möbelwagen Bodyslips? Die Bürgermeisterin entsandte Boten ins Dorf, die Verstärkung holen sollten. Als sie die Nachricht ereilte, ließ Herr Müller seinen Spaten fallen, Herr Meyer das Autowaschen; Frau Schultze setzte ihre MZ in Gang: Mit Kind und Kegel marschierten die Dorfbewohner vor den Zaun des Grundstücks.
Der Kreisstaatsanwalt, ein Herr Hagen, wurde nervös. „Nehmen Sie mich als Gefangenen, aber lassen Sie bitte den Möbelwagen durch!“ bot er den DemonstrantInnen an. Die lehnten ab, weil „wir hier nicht Cowboy und Indianer spielen!“ Dann tauchte aus dem Haus ein zweiter Staatsanwalt, ein Herr Dietze, auf, diesmal einer aus Berlin. Der Umzug sei eine Aktion im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen Schalck, trompetete er. Die Golliner blieben unbeeindruckt. „Wenn wir das Zeug nicht kontrollieren können, bleibt das hier!“ erklärte die Bürgermeisterin.
Schließlich rollte ein weiterer Wartburg an und der leitende Staatsanwalt in Sachen Schalck, ein Herr Berthold, bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Die drei Staatsanwälte, die allesamt auch schon im früheren Regime für „Recht und Ordnung“ gesorgt hatten, tuschelten hinter dem Möbelwagen und wußten nicht weiter. Vor dem Zaun machte man es sich unterdessen bequem.
Wohin die Ladung gehen solle, wurde gefragt. Die Staatsgewalt druckste rum. Warum man einen Möbelwagen aus West-Berlin brauche. Schweigen. Ob Herr Schalck jetzt seine Sachen wiederbekomme, obwohl nach ihm gefanhdet werde. Keine Reaktion. Warum das alles so heimlich geplant worden sei, schließlich habe nicht mal die Bürgermeisterin was gewußt. „Damit keine Unruhe in der Bevölkerung entsteht!“ antwortete Herr Dietze. Ob dieser Antwort entstand sofort Unruhe. „Det janze Zeug von diesen Vabrecha jehört eijentlich uns! 40 Jahre habt ihr uns betrogen! Und nu deckt ihr sone Sauerei! Wir kriegen 4.000 Mark und dem werden die Sachen noch hinterhergetragen!“ Die Herren Staatsanwälte sahen von Minute zu Minute älter aus. Dann fuhr ein Wagen der Volkspolizei vor. Nach Instruktion durch den ranghöchsten Staatsanwalt düsten sie wieder ab. Was nun passiere, wurden sie gefragt. „Nüscht!“ meinte einer der Vopos.
Tatsächlich passierte „nüscht“. Die Möbelpacker luden die Kisten zurück ins Haus und guckten wegen des Fußballspiels am Abend nervös auf die Uhr. Der Schwager von Schalck ließ seinen Wagen von den Gollinern kontrollieren und durfte passieren. Kreisstaatsanwalt Hagen, der am Morgen das Siegel aufgebrochen hatte, brachte ein neues an. Herr Berthold, der die Aktion gern „vor meinem Urlaub“ über die Bühne gebracht hätte, fuhr stöhnend mit Herrn Dietze zurück nach Berlin. Dann wurde auch der leere Möbelwagen durchgelassen. Die Golliner ließen eine Pulle Kirschlikör rumgehen und versüßten sich ihren Sieg. Man werde sicher wiederkommen und dasselbe nochmal probieren. Am 3. Juli aber, 230 Tage nach dem 9. November, haben „die dusseligen Golliner“ - wie sie von Frau Schalck einmal genannt wurden - endlich ihre eigene Revolution gemacht.
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