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■ Ein Déjà-vu mit Gotthilf Fischers HilfeDes Lebens goldner Gadderbaum

Ein Potpourri aus volkstümlicher, völkischer und Volksmusik ertönte 1982 zweimal wöchentlich in der Altentagesstätte Gadderbaum, wo ich als Zivildienstleistender der Arbeiterwohlfahrt Bielefeld den Küchendienst zu verrichten hatte: „Schwarzbraun ist die Haselnuß“, „Tulpen aus Amsterdam“, „Lustig ist das Zigeunerleben“ – Schwärme robuster Omas und auch einige begehrte Greise aus dem weiteren Einzugsbereich fanden sich dazu ein, im Sonntagsstaat, um anderthalb Stunden lang vorsichtig das arthritische Tanzbein zu schwingen. Zwischendurch wurden Tortenstücke mit Chemiekirschen im Sahnekragen verspeist. Warum auch nicht? Der alte Mensch als mountainbikendes, bis Honolulu mit Beachvolleybällen um sich schmeißendes Muskelpaket war von den Medien noch nicht erfunden und von der Sportartikelindustrie noch nicht entdeckt worden, und weshalb sollten alte Menschen nicht altmodisch sein?

Ich stellte Torten, Thermoskannen und Weinflaschen auf die Tische und die Ohren auf Durchzug. Das ist lange her. Ernst Jünger war damals erst 87 Jahre alt.

Am vergangenen Montag nahm ich am Marktplatz in Göttingen im Aprilsonnenschein eine Tasse Kaffee zu mir und hatte ein Déjá-vu, dem ein brutales Déjà-entendu vorausging: „Schwarzbraun ist die Haselnuß“, „Tulpen aus Amsterdam“, „Lustig ist das Zigeunerleben“ – Gotthilf Fischer persönlich war erschienen und dröhnte von einem flugs erbauten Podium herab auf die Laufkundschaft in der Fußgängerzone ein, begleitet von einer Konservenkapelle. Sofort bildete sich ein umfangreicher Seniorenpulk, der sich von Gotthilf Fischer zum Mitsingen animieren ließ: Mundorgelprogramm mit Zugaben, eine ganze Stunde lang.

Daß der Westerwald schön sei, war herauszuhören, daß der Ziegenbock mit seiner Frau im Unterrock tanze und daß sich die Sängerinnen und Sänger als Bergvagabunden verstünden. „Dich, mein stilles Tal, grüß' ich tausendmal!“ brüllten Einpeitscher und Pulk, ohne jedoch den Eindruck zu erwecken, daß sie mit der Liebe zur Stille allzuviel am Hut hätten.

Aus den Boxen ballerte und stampfte die Rhythmusmaschine. Gotthilf Fischer geizte nicht mit Komplimenten ans krähgeile Publikum, wies auf Fernsehsendungen mit Gotthilf Fischer hin und riet zum Kauf von Gotthilf-Fischer-Kassetten. Wer Musik im Herzen habe, könne uralt werden! „Es ist wie vor zehn Jahren“, rief er, „wie vor fünfzig Jahren sogar! Man singt, und das Leben geht weiter!“

Er hatte recht. Sie waren vollzählig versammelt, die Wiedergänger aus der Altentagesstätte Gadderbaum. Nichts hatte sich geändert, weder der Kopfputz noch die Gesinnung, weder die Körpersprache noch die Vorliebe für beigefarbene Garderobe und erst recht nicht der Musikgeschmack, nicht einmal um den „Hauch einer Nuance“ (Helmut Kohl), obwohl doch immerhin fünfzehn Jahre vergangen waren.

Ist Jimi Hendrix umsonst gestorben? Ist der Lebensbaum in Wirklichkeit ein Gadderbaum? Sind wir alle dazu verdammt, eines Tages in die unverwüstliche Seniorenuniform hineinzuwachsen und den Lebensabend als beigefarben gewandete Gotthilf-Fischer-Fans zu verbringen? Und mit kehlkopfcomputergestützter Stimme das Lämpchen zu bekrächzen, das noch glüht?

Der alte Mensch als buntbedruckte Sportskanone ist sicherlich keine verlockende Alternative zum uralten, Musik im Herzen bergenden, von häßlichen Broschen wimmelnden Auslaufmodell, das danach lechzt, die Lustigkeit von Seefahrten zu besingen. Aber gibt es nicht noch einen dritten Weg zum Friedhof? Gerd Henschel

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