: Der westdeutsche Maximalismus siegt
■ Das Ergebnis der Gespräche von Schelesnowodsk ist der Abschluß einer Entwicklung, die mit Kohls Zehn-Punkte-Programm zur deutschen Einheit begonnen hatte / Neue Karten in einem alten Spiel
Berlin (taz) - Das Ergebnis von Schelesnowodsk ist ein Triumph der Bundesrepublik und ihres Kanzlers Kohl. Einmal mehr erweist sich die Richtigkeit des marxschen Gedankens, wonach eine mittelmäßige Personnage, sofern sie zum richtigen Zeitpunkt in Aktion tritt, Weltgeschichte spielen kann. Seit der Proklamation des 10-Punkte-Programms zur deutschen Einheit, das weder mit den Verbündeten abgesprochen noch innenpolitisch konsultiert war, hat die westdeutsche Regierung die Initiative nicht mehr aus der Hand gegeben. Sie hat den widerstrebenden westeuropäischen Verbündeten ihren Zeitplan aufgeherrscht und im Verein mit den USA die Sowjetunion unter Druck gesetzt. Die sowjetische Diplomatie ist von der Forderung nach der Neutralität Gesamtdeutschlands über die Idee einer gleichzeitigen Mitgliedschaft Deutschlands in beiden Paktsystemen bis hin zum Vorschlag einer herausgeschobenen Souveränität Schritt für Schritt zurückgewichen.
Sicher liegt eine Erklärung für die konfusen und widersprüchlichen Aktionen der Sowjetunion im raschen Zerfall ihres westlichen Hegemonialsystems, dem entsprechende Auflösungserscheinungen in der NATO keineswegs entsprachen. So konnte die alte sowjetische Politik, auf die Auflösung der Militärblöcke hinzuwirken und den Einfluß der USA in Europa zwar nicht zu eliminieren, aber zu schwächen, auf keinen Erfolg hoffen.
Der vollständige Rückzug der Sowjetunion ist aber aus dieser für sie ungünstigen außenpolitischen Konstellation allein nicht verstehbar. Gorbatschows Politik folgt dem Primat der Innenpolitik. Die über alle Maßen katastrophale Entwicklung der sowjetischen Ökonomie macht eine Erneuerung des Produktionspotentials und riesige Investitionen in die Infrastruktur zur unaufschiebbaren Tagesaufgabe. Gorbatschow ignorierte die Großmannssucht und grobe Taktlosigkeit, mit der Kohl mit den Banknotenpaketen wedelte. Er akzeptierte sie einfach. Anläßlich der gestrigen Pressekonferenz sprach er von einer deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit, die gegen niemand gerichtet, aber für ganz Europa segensreich sei. Diese Worte enthalten eine Beruhigungsgeste - von uns geht keine Gefahr eines neuen Rapallo aus - aber sie betonen auch die künftige Sonderbeziehung zwischen der Sowjetunion und Deutschland.
Seit Schelesnowodsk ist die künftige deutsche Regierung „in der Pflicht“, die Wende zur Marktwirtschaft in der SU finanziell zu stützen. Sicher ist der sowjetischen Außenpolitik auch das Kalkül nicht fremd, daß mit dem Wegfall des alten Feindbildes Deutschland bereitsteht, die Rolle des imperialen Bösewichts in Europa verpaßt zu bekommen. In diesem Fall würde die Sowjetunion als Tröster bereitstehen.
Die Frage ist nur, ob sich dieser Tausch - obsolet gewordene Rechte gegen höchst reale Kredite, Sonderbeziehungen mit Deutschland statt eines maroden Paktsystems - innen- wie außenpolitisch auszahlen wird. Die Fronde derer, die Gorbatschow und Schewardnadze des Ausverkaufs sowjetischer Weltmachtinteressen zeihen, hat sich auf dem russischen wie dem sowjetischen Parteitag bereits formiert. Militärisch ist die Sowjetunion zwar in der Lage, sich von ihrem Territorium aus gegen jeden Angriff zu verteidigen. Aber der Verlust des strategischen Vorfeldes wird das alte Trauma wieder wachrufen, dessen Ursprung im August 1941 liegt. Noch kann Gorbatschow innenpolitisch auf die fehlende Alternative zu seiner Politik verweisen. Aber spätestens in einigen Jahren wird sich herausstellen, daß allen Absichtserklärungen zum Trotz die NATO als integrierte, dann weltweit operierende Militärmaschine weiterexistieren wird. Ihr bloßes Dasein wird dem Überleben einer auf Reform und Demokratisierung orientierten, „westlichen“ Strömung in der Sowjetunion mindestens so gefährlich werden wie die ökonomische Misere und die Nationalitätenkonflikte. Dies nicht zu erkennen, entschlossene Schritte zur Umwandlung der NATO in ein rein politisches Konsultativzentrum nicht ins Auge zu fassen, den Konflikt hierüber mit den USA zu scheuen - darin liegt die große Selbsttäuschung der westdeutschen Maximalisten.
C.S.
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