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■ QuerspalteDer virtuelle Präsident

Chirac ist ein netter Kerl. Das sagen alle, die persönlich mit ihm zu tun haben. Er hat Witz und Charme. Keine Spur von Arroganz. Er redet mit jedem. Und hat beim Bierchen zu allem etwas zu sagen.

Seit er im Élyśee-Palast sitzt, hat Chirac diese Fähigkeiten intensiv eingesetzt. Zunächst versuchte er es noch mit Pressekonferenzen im Stil seiner Vorgänger. Eingerahmt von Fahnen und goldbestuckten Spiegeln rief der Präsident einzelne der vor ihm aufgereihten „Präsidialpresse“ namentlich zum Fragen auf.

Das hat sich geändert. Statt des langatmigen Frage- und Antwortspiels, bekommen die Fernsehzuschauer Filmclips und Musik geboten, garniert von kurzen Zwiegesprächen mit handverlesenen Journalisten, die mit dem Präsidenten an einem Tisch sitzen. Selbstverständlich ist die Show live und sind die Journalisten unabhängig – auch wenn Chirac ein paar Tage vorher mit ihnen diniert hat und sie anschließend fürstlich entlohnt werden.

Am Montag abend war wieder so eine Kommunikationsoperation. Nach der „Justiz“, die vor ein paar Wochen dran war, wollte der oberste Franzose dieses Mal das Thema „Jugend“ behandeln: Von der Arbeitslosigkeit, über die Drogen bis hin zur Politikmüdigkeit. Die Kulisse bot das Technologiemuseum im Osten von Paris. Und ein paar Dutzend echte Jugendliche waren als Publikum dabei. Sagen durften sie allerdings nichts.

Dafür bestätigte Chirac ihnen dreimal, wie „formidable“ die französische Jugend sei. Er nutzte die fast zweistündige Sendezeit auch, um zu erklären, daß die Schule – der seine Regierung alljährlich Lehrer entzieht – besser und daß die Unternehmer – die eine Massenentlassung nach der anderen auslösen – verantwortlicher werden müßten.

Angesichts von 600.000 arbeitslosen Jugendlichen blieben diese Vorschläge seltsam vage. Statt zu beruhigen, verstärkt das bloß den Eindruck eines kommunikationsbegabten Präsidenten, der Fernsehen statt Politik macht und dabei zunehmend ins Virtuelle abdriftet. Dorothea Hahn

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