DIE SPD GLAUBT NICHT MEHR AN EINE ROT-GRÜNE ZUKUNFT: Der lange Abschied
Man sollte die Bekenntnisse des Kanzlers zu Rot-Grün, die auf dem Bundesparteitag in Nürnberg fielen, nicht überbewerten. Gerhard Schröder hat nur jenen momentanen Gefühlen entsprochen, die in der Partei vorherrschen und die sich auf dem Bundesparteitag in der klaren Bestätigung der linken Vertreter im Bundesvorstand ausdrückte. Was während der letzten vier Tage im Plenum nicht zur Sprache kam, auf den Fluren war es beherrschendes Thema: der langsame Abschied von Rot-Grün. Auch diejenigen, die sich eine Fortsetzung der Koalition wünschen, ahnen, dass es bei den Bundestagswahlen im Herbst 2002 wohl nicht mehr reichen wird.
Man dürfe sich der Wirklichkeit nicht verweigern, hat der Kanzler mit Blick auf seinen Koalitionspartner in Nürnberg ausgerufen. Das gilt natürlich auch ein Stück weit für seine eigene Partei. Sie wird sich auf das Unvermeidliche einzustellen haben: auf eine Zusammenarbeit mit Guido Westerwelle. Schröder hat in Nürnberg davon gesprochen, dass sich bei der FDP noch „sehr viel“ ändern müsse, damit sie wieder eine zentrale Rolle spielen könne. Dies als Absage an die Liberalen zu werten, hieße des Kanzlers Flexibilität zu unterschätzen. Man sollte den Stand der Dinge nüchtern betrachten: Zuwanderungsgesetz, Homoehe, die Rentenreform – an der FDP wären diese Projekte wohl kaum gescheitert. Und was die angebliche neoliberale Kälte angeht: Auch die Genossen wissen, dass ab 2002 der Umbau des Sozialstaates ganz oben auf der Agenda steht, und vielleicht kommt Schröder der Druck der FDP in dieser Frage sogar gelegen. Sein Verweis auf die FDP als „Wirtschaftsliberale“ war daher kaum mehr als eine rhetorische Verbeugung vor den Befindlichkeiten der Basis.
Für Schröder gilt nach Nürnberg: Je unabhängiger die SPD sich von Rot-Grün macht, umso geringer wird der Schmerz der Basis in der Wahlnacht sein. Genügend Anlässe, die Distanz zu betonen, wird es ohnehin geben – immer dann, wenn der Krieg der USA die Koalition ins Wanken bringt. Schröder ist angetreten, um zu regieren. Mag sein, dass ihn manches von Westerwelle trennt, in diesem Punkt sind sie sich einhundertprozentig einig.
SEVERIN WEILAND
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