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Der immer leidet und nie kämpft

■ Ignaz Kirchner hielt „Die Rede an den kleinen Mann“

Bis auf den letzten Platz gefüllt war das Mittelrangfoyer zur FreitagNacht im Thalia Theater: Ignaz Kirchner hielt die „Rede an den kleinen Mann“ von Wilhelm Reich, mit der er schon die halbe Republik bereist hat, jetzt auch in Hamburg. Einen mal bestechenden, mal befremdlichen, im Ganzen wuchtigen und wohl auch ein wenig larmoyanten Text haben Kirchner und Regisseur Peter Mussbach da ausgegraben. Es geht in ihm um nichts Geringeres als um die Befreiung der Welt.

Der Freud-Abweichler Reich spricht den „kleinen Mann“ direkt an: den ewigen Mitläufer, den ewigen Spießer. In seiner Rede, 1946 geschrieben, fragt Reich, warum der kleine Mann es zulasse, daß andere Herrschaft über ihn ausüben. Die noch nahen Erfahrungen von Massensterben, Holocaust und Atombombe flossen in die Härte der Sprache ein: „Dein Sklaventreiber bist du selber, kleiner Mann... Dein Befreier kannst du nur selbst sein.“

Reich will aufklären, überzeugen, überreden und verführen zugleich. Und sich selbst ein bißchen zum Märtyrer stilisieren will er wohl auch. So lockt und höhnt, analysiert und agitiert, umschmeichelt und verurteilt sein Text. Eine Bußpredigt, vielleicht paßt dieser Begriff am besten. Bei aller Verzweiflung, die den späten Reich überfallen haben muß, endet der Text doch mit einer optimistischen Perspektive: die Selbstemanzipation des Menschen, sie wird kommen.

Spricht uns das heute noch an? Das Welterlösungspathos dieses in einem Anfall von Schreibwahn in wenigen Tagen eruptiv aufs Papier geworfenen Textes stößt dann doch eher ab. Und mit seinen simplen Antagonismen von Macht und Wahrheit, Geld und Glück, Gesellschaft und unterdrückter Sexualität ist Reich allzusehr dem deutschen lebensphilosophischen Denken vom Anfang des Jahrhunderts verpflichtet. Andererseits: Differenzieren kann jeder. Was vielen Debatten fehlt, ist gerade, daß einer sagt, was Sache ist. Das kann man Reich nicht vorwerfen. Und zwei Punkte muß man ihm noch anrechnen: Die Frage nach der Macht ist natürlich noch virulent, also sollte sie immer wieder gestellt werden. Und dieser Text tut dies in appellativer Sprachgewalt, mit einer großen, fast lutherischen Kraft.

Ignaz Kirchner macht mit diesem Text-Monolithen genau das Richtige. Er trägt ihn nicht bloß vor, sondern verhandelt ihn im Vortrag. Er macht ihn zu seiner Party, wühlt sich an einigen Stellen in den Gestus des Welterlösers, distanziert sich an anderen und schmeckt einzelne Sätze fast genießerisch nach. Wie er den Text seziert, ohne sich als eigene Person hinter dem Gesprochenen zu verstecken, das ist schon große Klasse.

Dirk Knipphals

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