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„Der erste Schluck ist immer komisch“

Im Laboratorium der Firma „Sensatonics“ werden Tinkturen und Trünke wie „Aphrodite“ und „Venuswave“ gemischt, die durch die „Sinnlichkeit von Pflanzen“ das Erreichen einer „neuen, sinnlichen Ebene“ versprechen und nach Hustensaft schmecken ■ Von Frauke Niemeyer

Es gibt Tage, die irgendwie doof sind – ohne dass es einen Grund gäbe, schlecht gelaunt zu sein. Der Job ist sicher, der Liebste einem zugetan, das Kinoprogramm üppig, und dennoch. Man sitzt da und stellt sich in einem fort die Frage: Wie wieder begeistert sein vom Leben?

Da steht diese kleine braune Flasche im Glasschrank. Drauf steht „Venuswave“, drin ist ein Kräuterlikör. Wenn man dem Mann glauben darf, der diesen Trunk zusammengebraut hat, dann ist der Tag noch nicht verloren. Er heißt Bernd Lauer und ist Alchemist. In einem großen Gewerbehof auf der Grenze zwischen Kreuzberg und Treptow hat der 38-Jährige mit einigen Kollegen ein Laboratorium eingerichtet. Dort, bei „Sensatonics“, entstehen Tinkturen, Tees und Trünke, denen so mancher Berliner Nachtschwärmer magische Wirkung nachsagt. Die Welt, die eben noch grau war, soll plötzlich prickeln und voller Reize sein. Der Mensch gegenüber ist plötzlich nicht mehr nur der Kellner, sondern ein erotisches Wesen. Konsumenten von „Sensatonics“-Trünken verbinden sich nach eigener Aussage auf einer neuen, sinnlichen Ebene mit der Welt. Bei der Eröffnung der Berlin-Beta-Messe im vergangenen Jahr spendierten die Alchimisten allen Besuchern ein Glas „Aphrodite“. „Da waren alle viel herzlicher und spezieller zueinander“, so Lauer.

Diese Ebene erreichen sie über die Sinnlichkeit von Pflanzen. Um zu erklären, wie das zu Stande kommt, muss Lauer ganz von vorne anfangen. „Nach dem alchimistischen Wesensbegriff besteht jedes Wesen aus drei Komponenten: der Grundmasse, einer Entwicklungsqualität, genannt Merkur, und einer Abgrenzungsqualität, genannt Sulfur. Zum Beispiel der Duft einer Blume ist ein Sulfur.“ Begründet hat diese Lehre ein alter Ägypter namens Hermes Tesmedikos. Er fand heraus, dass der Mensch in der Lage ist, sich das Wesen von Pflanzen „einzuverleiben“ und sich anhand der Entwicklungsqualität anderer Stoffe weiterzuentwickeln. Dazu müssen die Pflanzen in einer speziellen Weise gereinigt und verarbeitet werden. „Wir benutzen getrocknete Pflanzen und verändern deren Lösungseigenschaften. Mit einer wasserlöslichen Pflanze fangen wir an, gewinnen ihr Lösungsmittel und benutzen es zum Lösen der nächsten Pflanze. So schachteln wir Lösungsvorgänge hintereinander, bis wir am Ende das fertige Elixier aus mehreren Pflanzen erhalten“, sagt Lauer, selbst studierter Lebensmitteltechniker.

Die Treptower Alchimisten entwickeln ihre Trünke selbst und lassen sich auch von altertümlichen Rezepten inspirieren. Dabei ist jedoch Vorsicht geboten. Viele wurden im Laufe der Jahre verfälscht, um die Rezepturen vor Missbrauch zu schützen. Zudem verzichtet Lauer auf tierische Zutaten wie Pferdedung oder Hasenpfoten. Viele der Pflanzen in seinem Laboratorium kommen aus Südamerika und Afrika. „Sensatonics“ machen ihren Kunden die fremden Pflanzen nicht nur zugänglich, sondern auch leicht konsumierbar. Denn die Zubereitungsmethoden der Ursprungsländer entsprechen selten europäischen Nahrungsgewohnheiten. „Die Kawa-Kawa-Wurzeln werden auf den polynesischen Inseln in einem gemeinschaftlichen Ritual gekaut und dabei eingespeichelt. Dann spuckt man sie in einen großenTopf mit Wasser, lässt sie eine Weile lang fermentieren und trinkt nachher den abgeseierten Speichel. Die Teilnehmer erleben dabei ein Gefühl der Verbrüderung.“ Alternativ zu dieser Methode bietet „Sensatonics“ Kawa-Kawa als Kräuterbitter in handlichen 30- und 100-Milliliter-Flaschen an.

Bis die fertigen Tinkturen für den Handel abgefüllt werden können, vergehen oft Monate. Die Flüssigkeiten lagern in großen Ballonflaschen, angeheftete Pläne zeigen die aktuelle Extraktionsstufe. Der Kräuterbitter „Aphrodite“ zum Beispiel wird in zwölf Teilschritten gebraut, die sich über acht Wochen hinziehen. In diesem Prozess wird streng nach alten, nummerischen Gesetzen das angesetzte Elixier mal verrührt und mal geschüttelt. „Ich halte die Flasche wie ein Baby im Arm und schüttle den Inhalt wie eine Acht, sodass die Flüssigkeit in ihrer Bewegung 24 mal die Richtung ändert“, so Lauer. „Durch diesen Impuls vermengen sich die kleinen Teilchen optimal. Dann bleibt die Flasche drei Tage stehen.“

Im „Kurvenstar“ in Mitte können die Gäste jeden Dienstag an der Spacebar Kräuterdrinks bestellen. Eine junge Frau über ihr Lieblingsgetränk „Kokmok“: „Die Wirkung geht mehr auf die Gefühlsebene, nicht so sehr auf die körperliche. Ich fühle ein angenehmes Prickeln, das hält auch den ganzen Abend.“ An die geschmackliche Nähe der Drinks zum Hustensaft müssen sich selbst Kenner jedes Mal wieder gewöhnen. „Der erste Schluck ist immer komisch, nach zwei, drei Schlücken wird es geradezu angenehm“, so ein junger Mann. Nebenwirkungen sind bisher bei Lauers Elixieren nicht aufgetreten. Einzig wer zu viel Kräuterlikör trinkt, ist irgendwann betrunken. „Sensatonics“-Produkte gibt es im Naturkostladen „Elixier“ in der Kollwitzstraße, als Longdrinks im „Goa“ in der Oranienburger Straße und dienstags im „Kurvenstar“ in der Kleinen Präsidentenstraße

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