: Der dritte Tischfuß
■ Eine Geschichte von Martin Buber
Als Rabbi Jecheskel Landau nach Prag kam, sprach er Sabbat um Sabbat zu seiner Gemeinde von nichts anderm, als von der bittern Not der Bedürftigen in der Stadt. Man hatte erwartet, Tiefsinn der Deutungen und Scharfsinn der Erörterungen aus seinem Mund zu hören, er aber dachte nur daran, des Elends zu gemahnen, das hier, in dieser Gasse und ihrem Umkreis, ungelindert, unbedacht sich breite. „Helft! Noch heute zur Nacht geht hin und helft!“ so rief er immer wieder. Aber die Leute nahmens für eine Predigt und ärgerten sich, daß sie so saft- und würzelos sei.
Da begab sich an einem geschäftigen Markttag etwas Wunderliches. Mitten durchs Getümmel kam der Rabbi und blieb im Kern des dichtesten Schwarmes stehen, als habe er Waren feilzubieten und warte nur auf einen gelegenen Augenblick, um sie der Menge anzupreisen. Die ihn erkannten, gaben das Unbegreifliche weiter, von überall drängten sich Händler und Käufer heran, sie starrten auf ihn, aber keiner wagte ihn zu befragen. Endlich brachte einer, der sich ihm vertraut wähnte, über die Lippen: „Was macht unser Rabbi hier?“
Sogleich hub Rabbi Jecheskel an:
„Wenn ein Tisch drei Füße hat, und von einem der drei Füße wird ein Stück abgebrochen, was tut man? Man stützt den Fuß, so gut man vermag, und der Tisch steht. Wenn nun aber noch ein anderer der drei Füße entzwei geht, gibt es kein Stützen mehr. Was tut man da? Man kürzt auch den dritten Fuß und der Tisch steht wieder.
Unsere Weisen sagen: 'Auf drei Dingen steht die Welt: auf der Lehre, auf dem Dienst und auf den Taten der Liebe.‘ Als das Heiligtum zerstört wurde, brach der Fuß des Dienstes. Da stützten ihn unsere Weisen, indem sie sprachen: 'Der Dienst mit dem Herzen, damit ist das Beten gemeint.‘ Wenn nun aber die Taten der Liebe hinschwinden und der zweite Fuß Schaden litt, wie soll die Welt da noch beharren ? Darum bin ich aus dem Lehrhaus weg und auf den Markt gegangen. Wir müssen den Fuß der Lehre verkürzen, daß der Tisch der Welt wieder feststehe.“
Aus: 'Die Kreatur‘, eine Zeitschrift, viermal im Jahr erscheinend, herausgegeben von Martin Buber, Viktor von Weizsäcker und Joseph Wittig, dritter Jahrgang, 1929, Verlag Lambert Schneider Berlin
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