: Der brave David
■ In Danny Boyles erstem Film, "Kleine Morde unter Freunden", wohnt man apart, wie Blumen im Ikebana-Gesteck
Zuerst sieht man die Wohnung, und ich dachte, oh ja, das würde einen kleinen Mord unter Freunden lohnen. Fünf Zimmer, in denen man zur Not die gesamte chinesische Landbevölkerung unterbringen könnte, und eine Küche bis zum Horizont. Das Bad fällt ein bißchen ab, die Armaturen sind Standard, aber in Ordnung ist es auch. Die Möbel sind so spärlich verteilt wie Blumen in einem Ikebanagesteck. Hier ein Sofa, dort eine Matratze, und irgendwo steht eine Kommode. In dieser Wohnung gibt es P.L.A.T.Z. Ich wette, sie ist auch noch ruhig. Keine Scheißnachbarn, die dich morgens um fünf Uhr mit Meat Loaf aus ihrer Stereoanlage wecken. Man würde sich gern noch ein bißchen umsehen, aber da klingelt es an der Tür, und wir gehen widerwillig nachsehen, wer da stört.
Juliet (Kerry Fox), Alex (Ewan McGregor) und David (Christopher Eccleston) suchen einen Mitbewohner. Nachdem eine Reihe scheuer Kandidaten mit Fragen wie „Was bringt dich auf die Idee, daß wir ausgerechnet mit jemandem wie dir diese Wohnung teilen würden?“ in die Flucht geschlagen wurden, steht plötzlich Hugo vor der Tür, ein ruhiger Typ, etwas älter als die anderen. Das geistreiche Trio beeindruckt ihn überhaupt nicht, und er zahlt bar im voraus.
„Hast du schon mal jemanden umgebracht?“ fragt David mit Blick auf das Geld. „Nein“, sagt Hugo ruhig. Da wissen wir aber schon, daß das nicht stimmt. Hugo zieht ein, und am nächsten Morgen liegt er tot auf dem Bett. Nackt und auf einem roten Laken hingestreckt, wie ein ermordeter römischer Senator. Man fragt sich, warum die drei überhaupt einen Mitbewohner gesucht haben. Sie bilden eine komplette Zelle. Sie sind immer zusammen, außer zur Arbeit scheinen sie fast nie auszugehen. Manchmal klingelt das Telefon, dann läßt sich Juliet von den anderen verleugnen. Alex öffnet ungeniert auch die Briefe, die nicht an ihn gerichtet sind, und kommentiert sie mit seiner vorlauten Klappe. Wie die „Schrecklichen Kinder“ sind sie abgrundtief ehrlich und boshaft miteinander. Sie pflegen einen vertrauten Umgang, wie ihn eigentlich nur Leute haben, die von Kindesbeinen an zusammengelebt haben. Aber darauf findet sich kein Hinweis. Von den dreien ist David das rätselhafteste Wesen, weil er am wenigsten dazu paßt. Er trägt eine Brille und ist Buchhalter. Aber er hat überraschenderweise keine Angst vor Alex' impertinenten Ausfällen.
Man fragt sich auch, wie die drei zu dieser Wohnung kommen. Alex ist Reporter bei einem Lokalblatt, Juliet Ärztin in einem Krankenhaus und David wie gesagt Buchhalter. In der Außenwelt unterscheidet sie nichts vom Heer der Angestellten im mittleren Dienst. Zu ihrem geistreichen und boshaften Selbst finden sie erst wieder, wenn sie zusammen in der Wohnung sind und wieder Teil ihrer Zelle werden.
Jetzt liegt also in dieser Wohnung der tote Hugo in seiner Imperatorpose. Auf dem Küchentisch steht ein Koffer voller Geld. Kein Aktenkoffer, sondern ein richtiger großer Reisekoffer, den Alex unter Hugos Bett gefunden hat. Es dauert ein paar Tage, bis David davon überzeugt werden kann, nicht zur Polizei zu gehen.
Dann muß die Leiche entsorgt werden. Und vor allem, bevor sie begraben wird, muß sie unkenntlich gemacht werden, das heißt: kein Gesicht, keine Zähne, keine Fingerkuppen und was sonst noch so zur Identifizierung dienen könnte. Das ist das eine. Das andere sind Hugos Kumpane, die auf der Suche nach dem Geld ein paar unerfreuliche Morde begehen, bis sie in der Wohnung des Trios auftauchen. Die Gewalt in diesem Film erinnert ein wenig an Chéreaus „Bartholomäusnacht“. Schußwaffen werden nicht benutzt. Nichts bleibt im Abstrakten. Man wird schauerlich daran erinnert, daß der Körper ein kräftiges, widerstandsfähiges Ding ist und man eine Säge braucht, um ihm die Hände abzutrennen, einen Hammer, um die Zähne zu lösen, und eine Eisenstange, um ein Knie zu zerschmettern.
Es ist der brave David, den das Los bestimmt, Hugo zu verstümmeln. Danach entwickelt er merkwürdige Züge, die den anderen beiden Angst einjagen, vom Zuschauer ganz zu schweigen.
Der liebe David. Schwer zu vergessen, wie er mit der Axt ausgeholt hat.
Die feste Zelle, die die drei gebildet haben, verändert sich, schlimmer noch, David verändert auch die Wohnung. Er zieht auf den Dachboden und bohrt Löcher in den Boden, so daß er Juliet und Alex beobachten kann. Und dann geht es plötzlich nicht mehr um die Zelle. An diesem Punkt der Geschichte hat sich Regisseur Danny Boyle entschlossen, doch lieber einen Thriller daraus zu machen. Das ist in Ordnung. Aber es ist ein bißchen so, als würde man in dieser prachtvollen Wohnung im Bad einquartiert. Anja Seeliger
„Kleine Morde unter Freunden“, Regie: Danny Boyle. Mit Kerry Fox u. a., GB 1994
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