■ Der Schienenverkehr soll sich künftig lohnen. Ab 1.Januar 1996 sind die Bundesländer für den Nahverkehr zuständig. Die Dezentralisierung birgt neben Chancen auch die Gefahr weiterer Stillegungen: Regionale Weichenstellung
Der Schienenverkehr soll sich künftig lohnen. Ab 1.Januar 1996 sind die Bundesländer für den Nahverkehr zuständig. Die Dezentralisierung birgt neben Chancen auch die Gefahr weiterer Stillegungen
Regionale Weichenstellung
Die Reisenden haben es zwar noch nicht bemerkt, doch seit dem Neujahrsmorgen sind die Bundesländer für den Nahverkehr auf der Schiene zuständig. Vorbei die Zeiten, in denen Bürgermeister und Landesminister den Bau gigantischer Straßen mit einem mangelhaften Zugangebot rechtfertigen konnten – jetzt liegt es an ihnen, den öffentlichen Personennahverkehr zu verbessern. „Der Fahrplan der Zukunft ist noch unbekannt“, sagt Iko Tönjes vom Verkehrsclub Deutschland (VCD). Absehbar ist jedoch, daß mancherorts die PendlerInnen bald sofortigen Anschluß haben werden, während sie anderswo nicht einmal mehr zum Bahnhof gehen müssen. Der hat nämlich dichtgemacht.
Einen Vorgeschmack auf ein verbessertes Angebot haben bereits die Bürger im südlichen Rheinland-Pfalz bekommen. Die Landesregierung hat 70 Millionen Mark in moderne Dieseltriebwagen investiert und schon lange vor der Reform mit Bund und Bahn einen Taktfahrplan abgesprochen; Bahn- und Busfahrpläne sind aufeinander abgestimmt, und es fahren 37 Prozent mehr Züge. Die KundInnen honorierten die Anstrengung sofort: Die Schalterbeamten konnten 43 Prozent mehr Tickets verkaufen.
Auch die AnwohnerInnen der sächsischen Schmalspurbahn von Oschatz nach Mügeln sind nicht abgehängt, obwohl die Deutsche Bahn AG die 20 Kilometer lange Strecke 1993 aufgeben wollte. 4,1 Millionen Mark Zuschuß im Jahr – das sei zuviel, hieß es damals zur Begründung. Der Deutsche Bahnkundenverband und die anliegenden Gemeinden übernahmen die Gleise und betreiben seither den Verkehr darauf. Nur 320.000 Mark Zuschuß waren im letzten Jahr dafür noch nötig. „Wir haben keine teure Verwaltung. Und unsere Lokführer sind Universaleisenbahner, die auch die Weichen warten“, begründet Gerhard Curth, Präsident des deutschen Bahnkundenverbands, die immense Wirtschaftlichkeitssteigerung.
Solche Initiativen könnten Schule machen. Denn die Länder bekommen in diesem Jahr 8,7 Milliarden und im nächsten Jahr 12 Milliarden Mark vom Bund dafür, daß sie den Schienennahverkehr selbst organisieren. Dafür können sie die DBAG oder ein anderes Verkehrsunternehmen beauftragen – je nachdem, welches Angebot ihnen am günstigsten erscheint. Während NRW, Hessen und Rheinland-Pfalz sowohl Verantwortung als auch Geld an die Landkreise weitergereicht haben, haben sich die meisten Länder entschlossen, den Schienennahverkehr zentral zu organisieren.
Noch fehlen allerdings vielerorts Leute und Institutionen für die keineswegs einfache Aufgabe. So haben die meisten Länder erst einmal einen Pauschalvertrag über zwei Jahre mit der Deutschen Bahn abgeschlossen: Die Züge fahren im gleichen Umfang wie bisher, und dafür bekommt die Bahn das ganze Geld, das der Bund gerade an die Länder überwiesen hat. Ende 1997 soll dann noch einmal mit dem Bund verhandelt werden, ob die bisherigen Zahlungen ausreichen. „Danach wird der Wettbewerb zunehmen“, prognostiziert Hartmut Sommer, Nahverkehrssprecher der Bahn.
Die Dezentralisierung birgt neben vielen Chancen auch große Gefahren. Auf der Strecke von Aachen nach Bielefeld durchquert der Regionalzugbenutzer künftig die Gebiete von fünf Verkehrsverbänden. Was nun, wenn einer von ihnen den Zug für überflüssig oder nicht bezahlbar hält? Noch ist auch keineswegs sicher, daß die Reisenden künftig mit nur einem Ticket durch die Republik rollen können. Ein einheitlicher Fahrpreis gehört bereits heute der Vergangenheit an. So kommt eine Berlinerin nur dann in den Genuß des günstigeren Fahrpreises im Rhein-Main- Verkehrsverbund, wenn sie vor Ort noch einmal zum Schalter geht. Löst sie zu Hause die ganze Strecke, muß sie für das Ticket von Frankfurt nach Königstein den teureren DB-Ferntarif berappen.
Hinzu kommt, daß tumbe oder böswillige Landes- und Regionalfürsten nach der Regionalisierung das Zugangebot noch weiter ausdünnen können. Zwar sind die Zahlungen vom Bund für den Schienenverkehr vorgesehen. Eine Garantie für die entsprechende Verwendung gibt es allerdings nicht. Bahnfans fürchten außerdem, daß in den nächsten Jahren noch viele Nebenstrecken stillgelegt werden. „Das Verfahren dafür ist drastisch verkürzt worden. Jetzt heißt es: im Zweifel für die Stillegung“, konstatiert VCD- Mann Tönjes. Nur drei Monate lang muß die DB unrentable Strecken ausschreiben. Wenn sich in dieser Zeit niemand findet, der als Gegenleistung für eine kostenlose Gleisübernahme mindestens 15 Jahre lang den Betrieb garantiert, kann schon ein paar Monate später Gras über die Schienen wachsen. Allein seit Anfang 1994 hat das Eisenbahn-Bundesamt die Ausmusterung von 700 Streckenkilometern akzeptiert. 721 Kilometer bietet die DB zur Zeit zur Übernahme an. Das geht aus der Antwort der Regierung auf eine PDS-Anfrage hervor. Mancherorts versucht man allerdings auch den umgekehrten Weg; so werden in Rheinland Pfalz inzwischen mehrere stillgelegte Strecken wieder befahren – mit neuen, komfortablen Waggons. Annette Jensen
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