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Der Schattenlyriker

■ Unersättlich neugierig auf die Katastrophen des Jahrhunderts: Durs Grünbein liest heute in Hamburg

„Was ist das Ungemütliche an den Texten von Durs Grünbein, das seine Lobredner blendet und seine Kritiker verstört?“ So fragte Heiner Müller, als er in einem seiner letzten Auftritte die Laudation auf den Lyriker Durs Grünbein hielt, der, gerade 33jährig, den Georg-Büchner-Preis 1995 entgegennehmen konnte. Müllers Antwort: Grünbeins Bilder seien Röntgenbilder, seine Gedichte Schatten von Gedichten, aufs Papier geworfen wie vom Atompilz. Und weiter: „Das Geheimnis seiner Produktivität ist die Unersättlichkeit seiner Neugier auf die Katastrophen, die das Jahrhundert im Angebot hat“.

Mag sein. Nur daß die Wendung genauso auf Müller zutreffen könnte (seine Stücke Schatten von Stücken). Eines allerdings macht der Satz deutlich: Über Grünbein redet man anders als sonst über Lyriker. Der Sound der Lobreden auf ihn (vor allem in der FAZ), aber auch seiner Verrisse ist mit Wucht gesättigt; über Grünbein läßt sich, so scheint es, nicht schreiben, ohne die schweren Themen Deutschland und Künstlertum in den Blick zu nehmen: „. . . die erste genuine Stimme der neuen Republik“ (Frank Schirrmacher).

Nur Jörg Lau hat im überregionalen Teil dieser Zeitung mal versucht, es anders zu machen. Er hat Grünbein in den Popkontext der textorientierten Hamburger Musikschule gestellt, aber das wirkte etwas gewollt, zumal sich Lau dann doch lieber noch auf die Bennschen Wallungswerte berief.

Geblendete Lobredner. Verstörte Kritiker. Bis zur ersten Dissertation wird es nicht mehr lange dauern. Da dies hier bloß eine Lesungsankündigung ist, nur noch dies: Einmal haben wir bei der Lektüre des Sonderbandes, den der Suhrkamp Verlag nach der Preisverleihung an Grünbein herausbrachte, dann doch lachen müssen. Das war bei der dort (nach Dankesrede und Laudatio, vor Büchners Vorlesung über die Schädelnerven) abgedruckten Rede, mit der sich Grünbein für die Aufnahme in die Akademie für Sprache und Dichtung bedankt.

Dort heißt es: „Vater und Mutter waren 22, als ich mit dem üblichen Geschrei eines Nachmittags aufdringlich zum Vorschein kam, traumatisiert von der Geburt genauso wie jeder andere. Bei dem französischen Dichter Jean-Jouve fand ich Jahrzehnte später ein Gedicht, das mir noch einmal den Schock in Erinnerung rief.“ Er ist, behauptet Grünbein, wie jeder andere. Nur kann er sich mit Hilfe eines Gedichtes den Geburtsschock in Erinnerung rufen. Doch nicht wie jeder andere! Kann man sich deutlicher auf seine Besonderheit qua Empfindungsmöglichkeiten berufen?

Hier kippt es ins Gekünstelte. Vielleicht dachte Heiner Müller daran, als er Durs Grünbein zum Abschluß seiner Laudatio „ein Jahr ohne Kritiker, Lobredner und Leser“ wünschte. Das Jahr könnte frühestens morgen beginnen. Heute tritt Grünbein im Hamburger Literaturhaus auf. Dirk Knipphals

Heute, 20 Uhr, Literaturhaus

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