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Der Samurai als Samariter

■ „Rotbart“ von Akira Kurosawa (1965): Ein bewegendes japanisches Krankenhaus-Epos, das gar nichts gemein hat mit unseren Schwarzwaldklinikseifenopern

Ein Filmgenre war mir immer zuwider: die Krankenhaus-Epen mit den „Halbgöttern in Weiß“ sind mir alle zu verlogen und rührselig, und daß ein Dreistundenfilm über den Leiter einer Klinik, seinen Assistenzarzt und das Schicksal verschiedener Patienten mich so sehr bewegen und begeistern könnte wie Kurosawas „Rotbart“, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Der junge Doktor Yasumoto hofft nach seiner Ausbildung in Nagasaki auf eine glänzende Karriere als Hofarzt des Shoguns, stattdessen wird er von seinem Vater in ein Armenhospital geschickt. Dr. Niide, der von allen Rotbart genannt wird, leitet die Klinik. Yasumoto ist zuerst abgestoßen von dessen Schroffheit und der dreckigen, unbedeutenden Arbeit. Er weigert sich, die Uniform der Klinik zu tragen, kümmert sich kaum um die Patienten und hofft, bald entlassen zu werden. Aber er macht Erfahrungen, die ihn verändern: Angesichts eines Sterbenden oder bei einer Operation ist er hilflos, eine hysterische Patientin bringt ihn beinahe um, die letzte Beichte ei

nes Sterbenden macht ihm seine eigene Oberflächlichkeit bewußt.

Rotbart wird zu seinem Vorbild und Lehrer, die Wandlung des selbstgefälligen Akademikers zum mitfühlenden Mediziner, der am Ende auf die glanzvolle Karriere verzichtet und in der Armenklinik bleibt, wird von Kurosawa als filmischer Entwicklungsroman angelegt. Er ist der Ausgangspunkt zu einem Panorama der Gesellschaft Japans im frühen 19. Jahrhunderts. Rotbart und sein Schüler haben Patienten in allen Klassen, sie behandeln den Reichen, der an Überfüllung leidet und die halbverhungerten Greise. Wie in den Romanen von Dickens gibt es eine Vielzahl von Nebenhandlungen, die dramaturgisch geschickt ineinander verzahnt, sehr emotional angelegt sind und fast sentimental wirken; aber ausgehend vom Mitgefühl für ein krankes Mädchen, ein sterbendes Kind oder einen engagierten Doktor zwingt Kurosawa uns zu der Einsicht, daß Mitgefühl nicht genug ist.

Toshiro Mifune spielt Rotbart in seinem letzten Film für Kurosawa. Wie Fellini/Mastroianni

hatten sie bis dahin fast immer zusammengearbeitet, Mifune spielte meist den heruntergekommenen, aber meisterlichen Samurai, der das Kratzen zu einer mimischen Kunstform entwickelt hat. Auch bei der Rolle des Arztes greifen Kurosawa und Mifune auf den Mythos des Samurai zurück. Rotbart hat einen ganz ähnlichen Ehrenkodex, er gebärdet sich wie ein Krieger und erzieht seinen Schüler, als würde er einer Schwertschule angehören. In einer Szene verprügelt er nach allen Regeln der Kunst eine Schar von Bordellknechten und renkt gleich darauf ihre Gliedmaßen wieder ein. Aber wenig später ist er noch beindruckender, wenn er mit überwältigender Geduld ein störrisches Kind dazu bringt, seine Medizin zu schlucken.

Rotbart ist eine aufwendige Produktion, an der zwei Jahre gearbeitet wurde. Eine ganze Filmstadt wurde aufgebaut. Aber der Film hat nichts Monumentales an sich, die imposanten Stadtansichten sind nur beiläufig für wenige Minuten zu sehen, durch ein Fenster, oder bei der Begegnung auf einer Brücke. An einzelnen Szenen drehte Kurosawa monatelang, etwa um das Glitzern in den Augen eines kranken Kindes richtig aufzunehmen. Vielleicht gelingt es dem 78-jährigen Kurosawa tatsächlich noch einmal, einen Film fertigzustellen. Im Frühjahr sind die Dreharbeiten geplant, aber dieser große Film des Meisters aus dem Jahr 1965 wurde fast vergessen; einmal ist noch Gelegenheit, ihn auf der großen Leinwand, wo er hingehört zu sehen: Am Sonntag um 16.00 in der Schauburg.

Wilfried Hippen

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