: Der Richtungweisende
VON BARBARA KERNECK
Mit manchen natürlichen Toden verhält es sich wie mit zu oft angedrohten Selbstmorden. Irgendwann glaubt man nicht mehr dran, dass sie noch eintreten. Boris Jelzins Ableben war so oft vorausgesagt worden, sein Herz wurde so oft operiert, dass es irgendwann in diesem aus Ersatzteilen bestehenden Brustkorb für ewig zu ticken schien. Nur hin und wieder erinnerten Gerüchte über neue Eingriffe – im Ausland, zuletzt in Deutschland – an die Reparaturbedürftigkeit des Organs.
Nun ist Boris Nikolajewitsch Jelzin doch gestorben, mit 76 Jahren. Russlands erster frei gewählter Präsident, der vielen seiner ZeitgenossInnen lange Zeit als Garant einer demokratischen Entwicklung dieses Landes galt. Und auch wenn dieser Mensch, wie es der Bürgerrechtler und Naturwissenschaftler Sergej Kowaljow ausdrückte, von parlamentarischer Demokratie etwa soviel verstanden haben mag wie von Molekularbiologie – so demonstrierte er doch in den Jahren der Wende vom Sowjetsystem zum modernen Russland eine unerschütterliche Vorstellung von Gerechtigkeit und Würde.
Gewiss hat es kaum je einen russischen Herrscher gegeben, der nicht Angst und Schrecken verbreitete. Jelzin aber war ein Fall für sich. Denn Angst hatten seine Landsleute vor allem um ihn selbst. Das fing schon in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre an, als Jelzins KPdSU-Karriere abrupt endete. Vor den Sitz des staatlichen Baukomitees der Sowjetunion, auf dessen Chefsessel Gorbatschow ihn damals aus der großen Politik abgeschoben hatte, waren BürgerInnen geschlossen 1988/89 geeilt, um „ihren“ Boris Nikolajewitsch vor einem Anschlag zu schützen. Vor einem üblen Plan, hinter dem „natürlich“ – wie sie meinten – Gorbatschow stand. Sehr bewegte Zeiten damals.
Der KP-Vorsitzende und sein einstiger Weggefährte werden für immer in einem Atemzug genannt werden. Gorbatschows Politik entsprach dem, was eine einflussreiche Fraktion innerhalb der sowjetischen Elite als historische Notwendigkeit erkannt hatte. Sein Erscheinen und seine Schritte auf der politischen Bühne brachten den Konsens der Herrschenden zum Ausdruck, sie sollten der Machterweiterung dieser Clique dienen – einen Systemwandel gedachte man nur im äußersten Fall in Kauf zu nehmen.
Boris Jelzin hingegen, als Moskauer Parteichef unter demütigenden Umständen abgesetzt, isoliert, jeglicher Macht enthoben und von der Öffentlichkeit abgeschnitten, entwickelte einen unglaublichen Trotz, der letzten Endes ein ganzes Imperium zum Einsturz brachte. Mit seinem Dickkopf war er eigentlich immer nur gegen Wände gerannt. Aber ganz unerwartet gaben diese Wand plötzlich nach. Die historischen Umstände hatten sie zermürbt.
Das Unvermögen, eine Kränkung herunterzuschlucken, Jelzins persönliches Defizit, wurde in diesem Augenblick zur Stärke, weil die übrigen Bosse der damaligen Sowjetunion mit dieser Charaktereigenschaft nicht gerechnet hatten. Die Massen sahen in ihm während der späten Perestroika-Jahre ihren Helden, der es als erstes Mitglied des Nomenklatura-Adels wagte, laut zu protestieren. Der Kampf zwischen Jelzin und Gorbatschow entschied sich in dem Moment, als Jelzin es riskierte, die Grenzen der Politik über den Apparat hinaus auszudehnen und sich auf die Macht der öffentlichen Meinung zu stützen. Im Nu gewann er Presse und Fernsehen für sich.
Nicht auszudenken, wie sich ohne Jelzin die Perestroika entwickelt hätte. Die Vorstellung, dass die UdSSR noch ein gutes weiteres Jahrzehnt vor sich hin vegetiert, war vorprogrammiert, eine verlängerte Agonie hätte zweifellos mehr Menschenopfer gekostet als der Tschetschenienkrieg.
Doch auch nicht in seinen besten Jahren vermochte Jelzin sich vom Malus des Nomenklatura-Bosses zu befreien. Seinen schnell errungenen politischen Sieg verfestigte er mit Hilfe derselben gesellschaftlichen Kräfte, die bereits die Perestroika Michail Gorbatschows initiiert hatten. Spätestens 1993 begriffen die russischen BürgerInnen, dass Boris Nikolajewitsch nicht das Reich der Gerechtigkeit verwirklichte, sondern jenes Werk fortführte, für das sein Vorgänger praktisch die Weichen gestellt hatte: die höchst ungerechte Privatisierung der Reichtümer im Lande und die Bereicherung einiger weniger. Ein riesiges Land hatte sein Gesellschaftssystem gewechselt, aber die herrschende Klasse war die gleiche geblieben.
Die Bonzen von einst sind die Kapitalisten von heute. Während seine Krankheit rapide fortschritt, gab Boris Nikolajewitsch Jelzin allen möglichen persönlichen Schwächen nach. Zur Angst um sein Leben trat nun die Angst davor, was er als Nächstes anstellen mochte. Ob er ein Treffen mit dem irischen Ministerpräsidenten „verschlief“ oder in Berlin ein Orchester „dirigierte“ – sein Volk schämte sich für ihn.
Der Begriff „Die Familie“ bezeichnete in seinen letzten Amtsjahren eine gefürchtete Kreml-Clique. Wenigstens dafür war Jelzins Rücktritt gut, diesen Begriff wieder in seine biologischen Schranken zu verweisen. Im vergangenen Jahr präsentierte er sich noch einmal den Medien, als harmloses, freudestrahlendes, zweifaches Urgroßväterchen.
Heute tanzt Russland noch immer über seinem alten Abgrund von Straflagern, ungerechter Jurisdiktion, Korruption und Gewalt. Der Abgrund ist der gleiche geblieben, aber Russland hat sich verändert. Zur Zeit seiner Herrschaft hatten Russlands BürgerInnen gelernt, sich öffentlich ungezügelt über ihn lustig zu machen. Gestern ist Boris Jelzin an Herzversagen gestorben. „Auf seinen Schultern liegen sowohl große Taten als auch schwere Irrtümer“, hat ihm Michail Gorbatschow hinterhergerufen.