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Der Pitbull muß schlafen

Nach einer grotesken Heldentragödie, in der Holland an Elfmeterschwäche scheitert, stehen Italiens Defensivstrategen im EM-Finale. Dort droht nun noch mehr einschläfernder „calcio classico“

aus Amsterdam BERND MÜLLENDER

Man kann ja mal einen Elfmeter verschießen. Vielleicht auch zwei. Aber vier hintereinander, und fünf insgesamt: Wie ist das möglich? Pech, Nerven, Dummheit, Angst oder alles zusammen? Frank Rijkaard, Coach der holländischen Elftal, hatte eine eindeutige Erklärung: „Dafür habe ich keine Erklärung.“

Der Mann war einfach ratlos und traurig. Und ist sofort nach dem Spiel zurückgetreten. „Unser Job war, das Turnier zu gewinnen. Ich hatte hohe Ziele, und ich habe eben meine Konsequenzen gezogen.“ Aber bitte, keine Spekulationen, er würde jetzt vielleicht Bondscoach in Duitsland: Für den DFB ist der viel zu nett. Und er liebt den Fußball.

Das zweite Halbfinale wurde zu Rijkaards Verhängnis, weil es weniger Fußball war als die perfekte Inszenierung eines großen Gesamtdramas: absurde Komödie, groteske Heldentragödie und große Oper. Spätestens nach dem Platzverweis von Gianluca Zambrotta war es das Spiel der Italiener geworden und das jähe Ende der landesweiten Oranje-Operette mit jedem weiteren Fehlversuch der verzweifelden Holländer abzusehen.

Denn in Unterzahl hatten die gelernten Fußballverhinderer nur noch die Nullnummer als Ziel, was sogar legitim wirkte, zumal im Auswärtsspiel. Und richtigerweise gingen die bösen Schurken siegreich vom Platz. Weil sie ihr Spiel perfekt spielten: leidenschaftlich verteidigen; so einschläfernd agieren, dass selbst das Energiebündel Edgar „Pitbull“ Davids die Fähigkeit zur Kreativität verlor; taktische Fouls, sich taktisch foulen lassen; theatralische Pausen – calcio classico auf höchstem Niveau. Ihr Trainer Dino „Die Mumie“ Zoff wusste, „die Rote Karte hat unser Team galvanisiert“. Und zum hoch effizienten Bollwerk zusammengeschweißt, zu Gummi gewordener Routine – mit einem Torwart Francesco Toldo, der war, so Zoff, „grande, was sonst!“. Das Elfmeterschießen, sagte Zoff, das sei „eine Frage des Schicksals“ gewesen.

Von wegen. Schon vorher waren die Holländer von Zweifeln zerfressen. Hier gelassene Gesichter, dort angespannte Masken. Hier alle Arm in Arm umschlungen, dort auf der Bank und im Mittelkreis nervös herumtrippelnde Gestalten.

„Wenn du im Spiel zwei Elfmeter nicht genutzt hast, dann bis du psychologisch vorbelastet“, wusste Rijkaard nachher. Vor Monaten hatte er akribisch Listen angelegt, wer wie schießen könnte. Nutzt alles nichts, Reservespieler Bert Konterman wußte: „Das ist eine pure mentale Frage.“ Der Rest ging in die Wolken oder in Toldos Pranken. Jaap Stam (Wolken) will sich das Finale trotzdem ansehen: „Mit französischer Fahne in der Hand!“

Das sportliche Drama in Oranje hat viele Geschichten. Vor dem Turnier hatten sie oft gut gespielt und ihr kluges System perfektioniert, aber (außer im Februar 2:1 gegen Deutschland) nie gewinnen können. Die Performance bei der EM 2000 war dem Fußballgenuss geschuldet, die Mischung aus taktisch hochmodernem und schönem und erfolgreichem Spiel. In der Vorrunde waren sie schwach, aber gewannen ständig.

Jetzt schloss sich der Kreis: Sie versagten und verloren richtigerweise. Dass das niederländische Fußballfiligran an der Banalität des Elfmeterpunktes endete, hatte noch eine besondere Pikanterie. Denn erst durch einen Elfer in der Schlussminute von de Boer, im blamablen Auftaktspiel gegen die Tschechen, waren sie überhaupt ins Turnier hereingekommen. Der gleiche de Boer, der am Donnerstag gleich zweimal an Toldo scheiterte.

Italien: Toldo - Cannavaro, Nesta, Iuliano - Zambrotta, Albertini (78. Pessotto), Fiore (83. Totti), Di Biagio, Maldini - Inzaghi (67. Delvecchio), del PieroNiederlande: van der Sar - Bosvelt, Stam, Frank de Boer, van Bronckhorst - Overmars, Davids, Cocu (95. Winter), Zenden (78. van Vossen) - Kluivert, Bergkamp (87. Seedorf)Zuschauer: 51.000 (ausverkauft)Elfmeterschießen: 1:0 Di Biagio; Toldo hält de Boer; 2:0 Pessotto; Stam verschießt; 3:0 Totti; 3:1 Kluivert; van der Sar hält Maldini; Toldo hält BosveltBesondere Vorkommnisse: Toldo hält Foulelfmeter von Frank de Boer (39.); Kluivert verschießt Foulelfmeter (62.)

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