: „Der Opa muß weg“
Ein alkoholabhängiger Angeklagter muß nach zwei Tötungsdelikten bei Strafende in die Sicherungsverwahrung. Therapie ist ein zu hohes Wagnis ■ Von Plutonia Plarre
Was tun mit einem 38jährigen alkoholabhängigen Mann, der zwei Menschenleben auf dem Gewissen hat? Möglichst lange im Knast einbuchten? Oder ihn zur Therapie in die Karl-Bonhoeffer- Nervenklinik (KBON) einweisen, selbst wenn die Aussichten auf Erfolg der Behandlung gering sind? Diese Frage hatte gestern die 32. Strafkammer des Landgerichts zu beantworten.
Auf der Anklagebank saß der Bäcker Rainer P. Weil er einen Obdachlosen zu Tode geprügelt hatte, war er im vergangenen Jahr wegen Vollrausches zu fünf Jahren Haft mit einem Strafende im Jahr 1998 und anschließender Sicherungsverwahrung (SV) verurteilt worden. Die SV, ein Relikt aus der Nazizeit, tritt nach dem Strafende in Kraft und dauert maximal zehn Jahre. Der Angeklagte hatte gegen das Urteil Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) eingelegt und so erreicht, daß über die Sicherungsverwahrung gestern erneut verhandelt werden mußte.
Im Vordergrund stand gestern der kriminelle Lebenslauf des Angeklagten, den die Kammer sich und den übrigen Prozeßbeteiligten aus stundenlangem Verlesen dicker Akten erschloß. An die 15 Urteile sind seit Rainer P.s 14. Lebensjahr gegen ihn ergangen. Bereits mit 19 Jahren überfiel der junge Mann, der in einem Erziehungsheim in Bayern zum Alkoholiker geworden war, eine alte Frau und raubte ihr zusammen mit einem Kumpel 360 Mark. Vier Jahre später schlug er, wieder im Suff und wieder mit einem Kumpel, einen Schwerbehinderten nieder und klaute ihm 20 Mark. Fünf Jahre später drohten er und ein Kumpel einem 14jährigen Schüler Schläge an, wenn der nicht freiwillig seinen Walkman herausrücke.
1989 mißhandelte der betrunkene Rainer P. zusammen mit einem Mittäter einen alkoholisierten Mann auf einer öffentlichen Toilette, so daß das Opfer an seinen massiven Verletzungen starb. Weil er wegen seiner Trunkenheit schuldunfähig war, wies ihn das Gericht zu einer Entziehungstherapie in die KBON ein. Und das, obwohl seine Therapiebereitschaft im Prozeß von zwei Gutachtern bezweifelt worden war. Zwei Jahre später war Rainer P. wieder frei. Bald darauf schlug und beraubte er, wieder betrunken, einen Bekannten und stand darum wenig später wieder vor Gericht. Die Richter waren wohlmeinend und setzten die Strafe zur Bewährung aus. P.s mangelnde Therapiebereitschaft stünde der Bewährung nicht entgegen, weil er auch ohne eine solche in der Lage sei, ein „eigenverantwortliches Leben“ zu führen, befand das Gericht.
Nach der U-Haft wieder auf freiem Fuß, war Rainer P. wie so häufig zuvor obdachlos. Am 15. Juni 1993 hatte es laut den Gerichtsakten geregnet. Deshalb bot er einem Kumpel an, mit ihm seinen trockenen Schlafplatz im Jungfernheidepark in Charlottenburg zu teilen. Doch als die beiden dort eintrafen, schlief da schon ein anderer Obdachloser seinen Rausch aus. „Der Opa muß weg, ohne meine Einwilligung übernachtet hier niemand“, hat Rainer P. dem Urteil zufolge gesagt. Anschließend zogen die beiden Betrunkenen das Opfer aus, schlugen „stundenlang“ auf es ein und erwürgten es schließlich. Anschließend raubten sie ihm 80 Mark.
Der gestern vom Gericht ausgiebig zu den Erfolgschancen einer Therapie bei dem Angeklagten befragte psychiatrische Gutachter wollte sich auf keine Prognose festlegen lassen. Er habe für ein positives Gelingen keine Anhaltspunkte, könne dies aber auch nicht ausschließen. Das Gericht kam zu dem Schluß, daß es das Wagnis einer Therapie nicht eingehen wolle, weil ihm das Risiko des Scheiterns angesichts der Vorgeschichte des Angeklagten zu hoch erscheine. Es verurteilte ihn erneut zur Sicherungsverwahrung, diesmal allerdings mit einer Begründung, die vor dem BGH vermutlich Bestand haben wird.
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