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Archiv-Artikel

open mike etc. Der Lagerist liest zum ersten Mal

Es ist schon erstaunlich, wie sehr sich die Biografien vieler junger Schriftsteller heutzutage gleichen. Das offenbarte der diesjährige Open-Mike-Wettbewerb in Berlin – den viele Verlage immer noch besuchen, um neue Autoren zu finden. Vor jeder Lesung wird der jeweilige Autor in knappen Worten vorgestellt. Da heißt es zumeist: Nach einem geisteswissenschaftlichen Studium – oder einem am Leipziger Literaturinstitut – publiziert der Nachwuchsliterat in Zeitschriften, sammelt emsig Preise und Stipendien und trägt seine Texte öffentlich vor, so oft er kann.

Die Vita von Johann Trupp, der am Wochenende beim 15. Open Mike nicht nur einen der drei Hauptpreise, sondern auch den erstmals vergebenen Preis der taz-Publikumsjury gewonnen hat, hebt sich deutlich von diesem prototypischen Karriereweg ab. Trupp kam als Jugendlicher aus Kirgisien nach Deutschland, machte eine Ausbildung zum Bürokaufmann und arbeitet als Lagerist im Großhandel. Der Open Mike war seine erste öffentliche Lesung.

Nicht nur darin unterschied sich Trupp vom Gros der Autoren, auch sein Text offenbarte eine selten anzutreffende Eigenständigkeit. „Parallelgestalten“ öffnet subtil Bedeutungsräume voller Jemande – ein Wort, das den Text durchzieht wie ein roter Faden. Da heißt es: „Jemand las gerne Bücher“ oder „Jemand beginnt einen Streit“ und aus der Spannung zwischen diesen Jemanden und dem erzählenden Ich entwickelt sich ein außergewöhnlicher Blick auf eine ständig zwischen Fremdheit und Vertrautheit oszillierende Welt. Der zweite Prosapreis wurde an Tina Ilse Gintrowski verliehen.

Erstmals wurde in diesem Jahr auch ein Lyrikpreis vergeben: an Judith Zander, die ihre Gedichte mehr hauchte als las und deren Texte lakonische Titel wie „immerhin“ oder „restwärme“ trugen. Das Niveau der vorgetragenen Gedichte war erstaunlich hoch, Ausfälle gab es kaum – aber leider auch wenig Gewagtes. Einzig die Texte der erst 19-jährigen Juliane Liebert offenbarten einen Mut zur Selbstentblößung.

Trotz des fast durchweg hohen sprachlichen Niveaus: Viele der diesjährigen Open-Mike-Autoren werden es schwer haben, sich auf dem übersättigten Literaturmarkt festzubeißen. Denn die Zeiten, in denen Nachwuchsschriftsteller vom Fleck weg engagiert werden, sind ein für allemal vorbei. „Nur nach echten Perlen“, bekannte ein Lektor, werde mittlerweile noch Ausschau gehalten. Was vor allem damit zusammenhängt, dass ehemalige Nachwuchsliteraten wie Julia Franck, Kathrin Röggla oder Jochen Schmidt unverdrossen weiterschreiben und so die Luft für die Nachrückenden immer dünner wird. ANDREAS RESCH

Johanns Trupps Erzählung „Parallelgestalten“ druckt die taz am Samstag exklusiv auf ihrer Literaturseite