: Der Kritiker als Zauberer
Siegfried Jacobsohns Theaterbesprechungen sind ungeheuer klarsichtige Zeitdiagnosen und virtuose Sprachkunstwerke zugleich. Eine Eloge auf seine „Gesammelten Schriften“
VON BARBARA HAHN
Am schönsten wäre es, die Bücher so ins Regal zu stellen, dass der Blick auf die Umschläge fällt. Dann erzählten die fünf Bände mit Siegfried Jacobsohns Theaterkritiken eine Geschichte: auf dem dunklen Kupferrot jeweils ein anderes gelb abgetöntes Porträtfoto, das mit dem entsprechenden Band korrespondiert. Der erste Band – „Das Theater der Reichshauptstadt“ – sammelt Kritiken, die zwischen 1900 und 1909 erschienen. Geschrieben wurden sie von einem jungen Mann mit runder Intellektuellenbrille und Denkerstirn, der auf seine Schreibhand zu schauen scheint. Der zweite Band – „Schrei nach dem Zensor“ – endet 1915. Autor ist ein skeptisch-verhalten blickender Mann, sehr korrekt gekleidet.
Ein ähnlicher Blick vom dritten Band, „Theater und Revolution?“, der 1926 mit Jacobsohns Tod endet. Ein Blick jedoch, der noch weiter in sich gezogen scheint. Scheu, mit einer Spur von Traurigkeit. Die beiden folgenden Bände erschließen die drei ersten. „Soweit Kritik beweisen kann“ ist der Band überschrieben, der den Kommentar enthält. Auf dem Titel das Bild eines Mannes mit abgeklärtem Blick. Band fünf heißt „Sie tobten. Ich schritt weiter“ und bietet Nachwort der Herausgeber, Zeittafeln, Werkverzeichnis sowie ausführliche Register aller erwähnten Personen und Stücke. Auf diesem Band das Foto eines Mannes in seinen Fünfzigern. Wieder diese Trauer in den Augen, diesmal mit einer Spur von Bitterkeit.
Siegfried Jacobsohn war erst 45 Jahre alt, als er im Dezember 1926 an den Folgen eines epileptischen Anfalls starb. Das Foto auf dem letzten Band gibt daher zu denken auf. Wer schreibt hier? Ein Mann, der älter wirkt, als er wurde. Ein Theaterkritiker. Sicher. Und doch schreibt da noch jemand anders. Die Folge der Fotos macht das fast noch deutlicher als die der Texte.
Wer war Siegfried Jacobsohn? Diese Sammlung von Texten macht deutlich, dass diese Frage erst noch zu stellen ist. Wie alle, die ihre Sache sehr gut machen, machte er seine Sache nicht nur in seinem Bereich gut. Man könnte diese Theaterkritiken als ungeheuer klarsichtige Zeitdiagnosen lesen. Was, zum Beispiel, tut ein Theaterkritiker im Januar 1919? Er geht ins Theater. Das ist sein Beruf. Doch geht man in einer Stadt ins Theater, in der genau dort geschossen wird, wo das Theater steht? Ja, man geht. Damit ist das Urteil über diese Revolution gesprochen. Allein schon deshalb, weil es „dank der Zuverlässigkeit der Berliner Beförderungsmittel selbst in den bewegtesten Läuften“ möglich ist, überpünktlich im Theater zu sein und dort ein recht belangloses Stück anzusehen. Ob das Grollen und Donnern im Hintergrund zur Inszenierung oder zur Revolution gehört, ist dann fast gleichgültig.
Meisterlich auch die Kritik einer Aufführung von Kleists „Hermannschlacht“ im Februar 1918. Eine Inszenierung von Max Reinhardt in der Volksbühne. Im Publikum „sieben Zehntel Anhänger von Liebknecht, drei Zehntel von Scheidemann“ – und keine Spur von kritischer Distanz zum Bühnengeschehen. Ein Publikum, das von Anfang bis Ende „Beifall tobt“: „Bisher immer war mir die Macht, die Übermacht der winzigen Junkerkaste über viele Millionen ein Rätsel gewesen. An diesem Abend hab’ ich sie, trauernd, begriffen.“
Dieser Satz bündelt Jacobsohns Sprachkunst. Das „immer“ an ungewohnter Stelle, das „hab’ “, das den Satz rhythmisiert. Dieser Kritiker ist ein Zauberer. Er liebt das Semikolon, das so schwer zu setzen ist. Er liebt den Doppelpunkt und Satzfragmente, die mit drei Pünktchen enden. Er streut schräge Adjektive vor die Substantive, wie „holder Wahnsinn“ oder „Räte geistiger Arbeit“, die als „himmelblau unschuldig“ bezeichnet werden. Er verrückt und spielt mit Zitaten aus der dramatischen Literatur, die der – vorzügliche! – Kommentar aufschlüsselt. Manchmal fällt er ins Stakkato: „London. Dachkammer. Abend. Schlamm und Verwesung.“ Manchmal wird es eher lyrisch.
Wunderbar die Porträts von Schauspielerinnen und Dramatikern. Tilla Durieux „hat ihre eigene Schönheit erfunden“; Eleonora Duses „Schöpfungen begleitet ein Unterton von Müdigkeit und Gram“. In wenigen Worten Skizzen von großer Zartheit. Am stärksten vielleicht in einem Nachruf auf Moritz Heimann, den Jacobsohn im Oktober 1925 veröffentlichte. Er hatte einen Freund verloren, einen „alten Griechen in Gestalt eines Juden von heute“. Von Besuchen bei Heimann in einem Dorf in der Mark ist die Rede. Von den Nachbarn, die bei „diesem Rabbi“ Rat holten, den dieser mit „der leisesten Höflichkeit des Herzens“ gab. Ein Freund, mit einer Liebe gezeichnet, die dem Schreiber mehrmals die Sprache zu verschlagen scheint. „Und doch.“ So heißt es zweimal. Und so könnte die Eloge auf den Freund auch auf Jacobsohn selbst passen: „Er hatte einen Zuhörer – und die alte geistige Glut schlug aus ihm heraus, die alte Wollust, Geist zu haben, Geist zu entwickeln, Geist zu steigern und zuzuspitzen, Geist aus der Alltäglichkeit zu ziehen und in sie zu legen.“
Siegfried Jacobsohn: „Gesammelte Schriften 1900–1926“. Hg. v. Gunther Nickel und Alexander Weigel. 5 Bände, Göttingen 2005, Wallstein Verlag, 149 Euro