: Der Krieg in der Fabrik
„Die letzten Tage der Menschheit“ in der Turiner Fiat-Fabrik „Lingotto“ ■ Von Margit Knapp Cazzola
In Turin hat Friedrich Nietzsche — so heißt es — ein Pferd umarmt und ist daraufhin dem Wahnsinn verfallen.
In Turin hat Luca Ronconi nun Die letzten Tage der Menschheit inszeniert, das einem Marstheater zugedachte Antikriegsdrama von Karl Kraus, in dem es um den Geisteszustand der Menschheit selbst geht — und nicht ihrer Philosophen. In den vielen Kurzszenen dieses als Zitatencollage angelegten Stücks schwadronieren sie alle miteinander über den Ersten Weltkrieg: Minister, Generäle, Hausfrauen, Dichter, Krankenschwestern, JournalistInnen, Nörgler und Optimisten.
Die Entdeckung von Karl Kraus in Italien geht auf Roberto Calasso vom Mailänder Adelphi Verlag zurück, wo 1980 (nun wiederaufgelegt) auch Gli ultimi giorni dell'umanità erschien. Der dreieinhalbstündigen Turiner Fassung liegt die Übersetzung von Ernesto Braun und Mario Carpitolla zugrunde, in italienischer Hochsprache, wodurch Humorelemente wie Namen und Dialektfärbungen natürlich wegfallen.
Das Spektakuläre an der Turiner Aufführung ist durch den Ort vorgegeben: Gespielt wird im „Lingotto“, dem Architektur-Schmuckstück der Fiat-Fabriken, dem Wahrzeichen der italienischen Industrialisierung. Zu Beginn der zwanziger Jahre — gerade als das während des Krieges entstandene Drama von Kraus erstmals in Druck ging — wurde der „Lingotto“ fertiggestellt. Die Autos produzierte man dort von unten nach oben, die einzelnen Stockwerke hoch, bis sie auf der berühmten Teststrecke auf dem Dach ihre ersten Runden drehten.
Im Erdgeschoß, in der Fabrikhalle, wo einst die Pressen standen, agieren nun auf 7.000 Quadratmetern 60 SchauspielerInnen. Die Wände entlang führen einen Kilometer lange Gleise, auf denen authentische Lokomotiven und Waggons einherrollen. Die Strecke dient auch als Straße für Automobile, historische Fiat-Modelle. In Requisite und Kostüm (Gabriella Pescucci) hat man sich streng an die Zeit gehalten. Druckerpressen, Zeitungen, Krankenbetten, Kaffeehaustische, Kanonen — alles alt und echt. Die meisten der Objekte kommen aus piemontesischen Museen — um die herbeizuschaffen, wurde gar die ehemaige Eisenbahnlinie zum „Lingotto“ wiedereröffnet.
Nun ist also das „Lingotto“-Projekt — in der Turiner Stadtregierung jahrelang Anlaß zu Polemiken — endgültig entschieden: Unter dem Patronat von Fiat wird die verfallene Fabrik renoviert (1991 beginnen die Arbeiten) und soll so zu einem Treffpunkt für internationale Hochglanzkultur avancieren. Den Auftakt zu dem großen Vorhaben übertrug man Luca Ronconi, der Karl Kraus für die erste Theateraufführung im „Lingotto“ wählte — diesmal noch in der alten baufälligen Fabrik, dem imposanten Koloß mit den vielen kaputten Fensterscheiben.
Im Mittelgang und jeweils an den beiden Längsseiten der riesigen Halle wird gespielt. Das Publikum steht und wandert, das dramaturgische Prinzip heißt Simultaneität. Während vorne links einer die „Extraausgabe“ ausruft, streiten im Mittelgang die Passanten und hinten rechts zwei Offiziere. Das Geschrei (das manche SchauspielerInnen hörbar an die Grenze ihrer stimmlichen Leistungsfähigkeit bringt) und das Stimmengewirr (das manche ZuschauerInnen sichtlich an die Grenze ihres Auffassungsvermögens bringt) geben auf erfahrbare Weise der Akkustik, dem Geräusch jene große Bedeutung, die Kraus ihm zugeschrieben hatte. Die Toncollage von Hubert Westkemper schafft in der Halle diese involvierende Atmosphäre.
Nur wenn der Optimist und der Nörgler auftreten und ihre gegensätzlichen Argumente vorbringen, herrscht meist an den anderen Spielorten Ruhe. Der Nörgler (Massimo de Francovich), das Sprachrohr von Karl Kraus, schwebt während einer seiner Reden sogar in einer Art Seilbahnsessel — einer gigantischen Hängekonstruktion — über die Köpfe der ZuschauerInnen hinweg durch die Halle wie vor ihm schon Hofrat Nepalleck, während er mit dem Kaiser telefoniert und sich mit dem Hängestuhl dreht. Keine kleinen Diener, keine leichten Verbeugungen, nein, halsbrecherische Saltos.
Im Mittelgang indes werden die SchauspielerInnen auf eisernen Transportwagen hereingeschoben; 70 Techniker sind insgesamt damit beschäftgt. Das Publikum muß sich an den Seiten zusammendrängen, um in der Mitte Platz für die Wagen zu schaffen, und dadurch — ein theatralisch genialer Einfall — steht man plötzlich selbst am Straßenrand der Wiener Ringstraße, schaut zu den debattierenden Ministern und BürgerInnen hinauf und hinüber, geht ihnen nach, um sie besser zu verstehen.
Ja, Karl Kraus war der Chronist des Straßengeschwätzes. Und das Volk, dem er aufs Maul geschaut hat, ist man in der Turiner Inszenierung selbst. Die „Große Revue“, wie Berthold Viertel das Drama nannte, bietet von sich aus wenig theatralisches Geschehen. Vom Krieg wird viel geredet, wenig gezeigt. Die Bewegung muß daher inszeniert werden und gerade dafür ist die alte Fabrik der ideale Ort.
Vielleicht allerdings — gerade weil so viel gefahren und geschrien, bewegt und gewechselt wird — sind die Szenen, die am meisten Kraft entwickeln, jene kleinen im Abseits, die Stummen, Verwundeten an Nebenschauplätzen. Auch dies ein Zeichen der klug durchdachten Regie.
Eine Entwicklung ist in dem stundenlangen Spiel denn auch nur vage im Ansatz zu fühlen. Die Farce will nicht recht zur Tragik geraten. Verfremdungseffekte, wie der mit Mädchenstimme singende Kaiser Franz Joseph, tragen durchgängig zu einer distanzierten Sehweise bei. Der Rhythmus wird bedrohlicher, der Kreis schnürt sich zu, aber die Groteske legt ihre Maske nicht ab.
„Das Visionäre“, sagt Luca Ronconi, habe ihn vor allem an dem Drama interessiert. Wo die Sprache zur Phrase erstarrt, so Kraus, erhöht sich die Kriegsgefahr. Den Letzten Tagen der Menschheit folgte die Vernichtungsmaschinerie des Zweiten Weltkriegs. Im Persischen Golf perfektionieren im Moment Soldaten den Umgang mit Giftgas. Der Wahnsinn des Krieges wirkt in der Realität stärker als auf der Bühne. Das aber ist der Realität anzulasten und nicht dem Theater.
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