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Der Krieg in den Herzen geht weiter

Zum Frieden in Bosnien müssen die Menschen die Versöhnung auch wollen. Doch viele können nicht verzeihen. Gibt es in der Föderation der Muslime und Kroaten Zeichen der Verständigung?  ■ Aus Vitez Erich Rathfelder

Linker Hand liegt die Tankstelle und das Hotel, rechter Hand die Polizeistation und das Bürgermeisteramt. Das Zentrum der zentralbosnischen Stadt Vitez unterscheidet sich kaum von dem anderer Provinzstädte dieser Größe in Europa. 20.000 kroatische Einwohner leben hier. Es gibt Grundschulen und ein Oberstufenzentrum, ein Fußballstadion, ein Schwimmbad, es gibt Kaufhäuser, Geschäfte und Restaurants. Und es gibt eine Altstadt.

Stari Vitez. Kaum 100 Meter von dem Bürgermeisteramt entfernt führt die Hauptstraße in das muslimisch geprägte Zentrum der Stadt, wo 2.000 Menschen leben. Hier weht das kroatisch-bosnische rot-weiße Rautenmuster der Kroaten, dort die bosnische Flagge mit den drei Lilien. Die ersten Häuser der Altstadt bieten das Bild der Zerstörung. Sie wurden am Abend des 19. April 1993 von einer riesigen Explosion dem Erdboden gleichgemacht. Damals hatten kroatisch-bosnische Extremisten einen Mann auf den Führersitz eines Lastwagens gezwungen, seine Hände an das Lenkrad angebunden, den ersten Gang eingelegt, den Zeitzünder eingestellt. Langsam hatte sich der mit Explosivstoffen beladene Lastwagen auf die Altstadt zu bewegt und war dann in die Luft geflogen.

Die Toten liegen heute auf einem neu angelegten Friedhof in der Altstadt. Auch die Überreste jenes Mannes, der den Lastwagen zu fahren gezwungen war. Jetzt liegt er neben der langen Reihe von 99 Gräbern von Opfern des nahegelegenen Dorfes Ahmici. Es war ein muslimischer Bosnier aus dem Ausland, der damals im April 1993 zu Besuch gekommen war. Die Namen der Toten sind unbekannt. Denn sie waren so verstümmelt oder verbrannt, daß ihre Identität nicht mehr festgestellt werden konnte – nachdem damals, am 16. und 17. April 1993, vermummte Soldaten der kroatisch- bosnischen Spezialeinheit „Jokers“ den muslimisch bewohnten Teil des Dorfes überfallen, die Menschen in ihren Häusern eingesperrt und lebendigen Leibes verbrannt hatten.

In Vitez wurde die muslimische Bevölkerung vertrieben, die muslimisch dominierte Altstadt eingeschlossen und über ein Jahr lang belagert. Im Gegenzug vertrieben bosnische Soldaten und freiwillige Kämpfer aus islamischen Ländern – sogenannte Mudschaheddin- Einheiten – die kroatische Bevölkerung aus den Dörfern auf den Höhezügen um die Stadt, in Dusine Selo, in Krisancevo Selo oder anderen Orten. Der Marktflecken Gucagora wurde am 7. Juni von Mudschaheddin überfallen, die kroatische Bevölkerung floh in Panik, nachdem bekannt geworden war, daß in einer nahegelegenen Ansiedlung über 30 Kroaten ermordet worden waren. Ihre Häuser wurden nach ihrer Flucht dem Erdboden gleichgemacht. Vitez und der umliegene Landstreifen im Tal der Lasva wurde zur kroatischen Enklave.

Am Ostersonntag kommen die ehemaligen Einwohner nach Gucagora zurück. Die bosnisch-muslimischen Behörden haben ihre Einwilligung gegeben. In drei Bussen sind sie aus dem kroatisch kontrollierten Novi Travnik angereist, wo sie jetzt als Flüchtlinge leben. Mit unsicheren Schritten gehen sie über die Dorfstraße, vorbei an dem Camp der bosnischen Armee, wo die wachhabenden Soldaten müde in der Frühlingssonne dösen. Schweigend betrachten sie die Ruinen ihrer Häuser. Erinnerungen werden wach, Tränen steigen auf. Manche setzen sich in den Garten, lassen die Erde durch die Finger gleiten, zupfen an den Frühlingsblumen. „Ich möchte zurückkommen“, sagt eine 45jährige Frau. Zwei ihrer drei Söhne sind im Krieg gefallen. Mann und Bruder nicken zustimmend. „Wir wollen unser Elternhaus wieder aufbauen.“ Doch sorgenvoll schweift ihr Blick hinüber zum Oberdorf. Hinter den mächtigen Fassaden der über 800 Jahre alten katholischen Kirche und des Franziskanerklosters sind die Minarette der Moscheen zu sehen. Keiner der Besucher geht dort hinauf. Nur eine Frau kommt zurück und berichtet von der Pistole, die auf sie gerichtet war.

Es herrscht Friede in Bosnien. Und die kroatisch-bosnische Föderation, mit der im März 1994 der Krieg zwischen Muslimen und Kroaten beendet wurde, wird zu neuem Leben erweckt, versprechen die Politiker. Die Autos mit dem bosnisch-muslimischen blau- weißen Kennzeichen fahren tatsächlich wieder durch den Teil von Vitez, der von Kroaten beherrscht ist. Die Kontrollpunkte sind abgebaut. Und die Autos mit dem rot- weißen Rautenmuster der Kroaten fahren durch die muslimisch beherrschten Gebiete. Doch niemand hält sich auf im Teil der anderen. Nicht zum Einkaufen, nicht zum Tanken. Die Muslime fahren in die 30 Kilometer entfernte Stadt Zenica oder ins acht Kilometer entfernte Travnik. Und die Kroaten bleiben unter sich.

Die muslimischen Kinder gehen in Stari Vitez zur Schule; die älteren fahren nach Travnik zur Oberschule. Im Geschichtsunterricht wird die bosnische Geschichte aus muslimischer Sicht dargestellt. Und in den kroatischen Schulen wird die Nationalhymne der Republik Kroatien gesungen. Der kroatisch kontrollierte Teil von Vitez ist an das kroatische Telefonnetz angeschlossen – Anrufe nach Kroatien werden nach innerkroatischem Tarif berechnet. Von der Altstadt aus dagegen ist es schwer ins Ausland durchzukommen. Das Telefonnetz ist getrennt wie das Postsystem. Die offizielle Währung ist die Kuna. Im muslimischen Teil ist die offizielle Währung die Deutsche Mark.

Es sind zwei Erfahrungswelten, die hier aufeinandertreffen. Es sind zwei Gemeinschaften, die nebeneinander existieren, mit ihren kollektiven Erfahrungen, Mythen, Ideologien und Religionen. Der Krieg wurde von oben begonnen, von den Ideologen, von den Militärs, von den Extremisten, nicht von den Menschen, von den normalen Bürgern. Doch mit den Kämpfen ist der Krieg an der Basis angekommen. Er ist weiterhin da. Er ist in den Köpfen und in den Herzen.

Kinder bekommen Angst, wenn sie Menschen der anderen Gemeinschaft sehen. Und Frauen verkrampfen sich, wenn sie durch das Gebiet der anderen fahren. Alle achten darauf, daß die Autos in Ordnung sind. Nichts Schlimmeres könnte passieren, als wegen einer Panne im anderen Gebiet anhalten zu müssen, sagt ein Autofahrer. Es wird nur noch in den Kategorien des „Wir“ und des „Anderen“ gedacht. Gibt es einen Autounfall oder einen Streit zwischen einem Kroaten und einem Muslim, fühlen sich beide Gesellschaften betroffen und ergreifen die jeweilige Partei. Zwischentöne gibt es selten.

Aber immerhin, es wird nicht mehr geschossen. Mit der Vereinbarung von Sarajevo vom 31. März sollen in der muslimisch-kroatischen Föderation Brücken gebaut werden, sollen die Gemeinschaften wieder zusammenwachsen, sollen Polizei und Armee vereinheitlicht, soll die Wirtschaft wieder angekurbelt werden. In Vitez wurde eine neue politische Struktur beschlossen. Der Bürgermeister der nominell wiedervereinten Stadt wird ein Kroate sein. Der Präsident des Gemeinderates dagegen ein Muslim. Die Gemeinde Vitez wird Teil eines gemischten Kantons, des Kantons von Travnik, der das gesamte westliche Zentralbosnien umfaßt. Auch dort werden Muslime und Kroaten sich die Macht teilen.

Der 40jährige Franjo Rajković ist Kroate und jetzt Bürgermeister von Vitez. Der erfolgreiche Unternehmer – er besitzt Läden und Restaurants – ist ein redlicher Mann. Er möchte die Beschlüsse von Sarajevo in seiner Stadt umsetzen. Er setzt auf die wirtschaftliche Integration, will die ehemals erfolgreichen Fabriken der Stadt wieder zum Arbeiten bringen. Da ist die Firma Vitezid, die von Kartonverpackungen, Holz- und Metallverarbeitung bis hin zur Dynamitproduktion für die nahegelegenen Minen eine breitgefächerte Produktionspalette hatte. Und Kalvarje, eine Firma, die Baumaterialien herstellte. Schon jetzt gibt es wieder 300 Arbeiter in diesen Betrieben, die auf kroatisch kontrolliertem Gebiet liegen. Es sind ausschließlich Kroaten, die dort beschäftigt sind. Es ist eine ethnisch definierte Ökonomie entstanden. Werden jemals auch Muslime oder gar Serben wieder in den Fabriken, die ja im sozialistischen System Volkseigentum waren und damit allen gehören, arbeiten können? Franjo Rajković schließt das nicht aus. Aber könnte er dies auch gegenüber der eigenen Bevölkerung durchsetzen?

Der gleichaltrige Muslim Mehmet Ahmić ist Vorsitzender des Gemeinderates. Er arbeite gern mit Rajković zusammen, sagt Ahmic, ebenfalls erfolgreicher Unternehmer vor dem Krieg. Er besaß damals ein großes Haus in dem jetzt zerstörten Dorf Ahmici. Und obwohl er zwölf Mitglieder seiner Familie bei dem Massaker von 1993 verloren hat, möchte er für den Frieden arbeiten. „Unserer aller Zukunft kann nur gesichert werden, wenn wir zusammenarbeiten.“

Doch die Probleme türmen sich. Bisher gelang es nicht einmal, die riesigen Schlaglöcher auf der Hauptstraße zu beseitigen. Beide Seiten geben zu erkennen, sie könnten persönlich ganz gut miteinander auskommen. „Wir müssen gegenseitiges Vertrauen entwickeln.“

„Wie soll ich Vertrauen haben, wenn die Mörder meiner Eltern noch frei herumlaufen?“ Der 15jährige muslimische Junge, der dies sagt, mußte als 13jähriger mitansehen, wie sein Vater erschossen wurde. Er kennt die Mörder. Er hat sie erst vor wenigen Tagen vom Bus aus gesehen. Es war ein Schock für ihn. Seitdem kann er nicht mehr schlafen. Er äußert sich skeptisch über den Abbau der Kontrollstellen. „Jetzt können sie jederzeit in das Haus meiner Tante kommen.“ Er hat Angst, möchte nicht einmal die Namen der Mörder preisgeben.

Vier der sechs in Den Haag angeklagten kroatischen Kriegsverbrecher kommen aus Vitez. Unter ihnen der ehemalige Kommandant der Region, Tihomir Blaskić, der Kommandant der Stadt, Mario Çerkez, der ehemalige Polizeichef Pero Skopljak und ein Mann namens Ivan Santic. Gegen andere ist noch keine Anklage erhoben. Auch nicht gegen die Mudschaheddin, die Verbrechen in den kroatischen Dörfern begangen haben. „Die Kriegsverbrecher aller Seiten sind ein Problem“, antwortet vorsichtig Mehmet Ahmić. Für Bürgermeister Franjo Rajković haben viele nur Befehle ausgeführt, die Verbrecher seien von außen gekommen: „Niemand von den Einheimischen hat an der Aktion in Ahmici teilgenommen.“ Es ist ihm anzumerken, wie unangenehm das Thema für ihn ist. Es sind mächtige Leute, die da beschuldigt sind. Und einige von ihnen kommen aus Vitez.

An der Tankstelle im Zentrum der Stadt hat sich eine Schlange gebildet. „Polako – langsam“, sagt der Tankwart. Nur langsam werde es mit der Föderation vorangehen. „Aber vor zwei Jahren war hier noch Krieg. So gesehen, haben wir schon viel erreicht.“

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