: Der Kotvogel weiß den Weg
Kunstfertig zerrissener Traum von der Möglichkeit, irgendwo anzukommen: Schaubühnenchefin Andrea Breth inszenierte „Die Sprache der Vögel“ nach Farid Uddin Attar – ein mystisches Gedicht, recht diesseitig interpretiert ■ Von Petra Kohse
Es ist kalt, und am Schlesischen Tor ist es noch kälter. Verlockend blinken die türkischen Imbißbuden, doch wer jetzt noch nichts gegessen hat, kriegt auch nichts mehr – die Vorstellung beginnt um acht, und es ist Viertel vor. Kritiker mit Wollmützen ziehen raschen Schritts vorbei, Richtung Cuvrystraße, zu Andrea Breth, in die Probebühne der Schaubühne. Zweimal ist die Premiere verschoben worden. Erst war die Decke eingestürzt, dann erkrankte eine Schauspielerin. Jetzt riecht es erstickend nach ganz frischer Farbe. Aber warm ist es, leidlich.
„Die Sprache der Vögel“ nach Farid Uddin Attar. Ein langes Gedicht des persischen Mystikers aus dem 12. Jahrhundert. „Bis zum Tag der Auferstehung wird niemand einen solchen ekstatischen Zustand zu Papier bringen“, befindet der Autor. J.H. Garcin de Tassy übersetzte aus dem Persischen, Brigitta Restorff aus dem Französischen. Darauf basiert die Dramatisierung der Schaubühne.
Wolf Redl spricht das Eigenlob am Ende der Aufführung. Er spielt den „Schreiber“, aber auch den „Wegboten“ dieser Seelenfahrt einer Gruppe von Vögeln. Während Farid Uddin Attar an anderer Stelle den Unterschied zwischen erlebter und niedergeschriebener Erfahrung, zwischen seinen Figuren und sich selbst betont, wählte Andrea Breth eine doppelte Rollenzuweisung. Das macht Sinn, weil es von der Mystik zur Dichtung zurückführt. Eine Reise zu imaginieren, bei der man am Ende bei sich selbst ankommt, ist das Äußerste, was heutzutage wohl zu erreichen ist. Wer könnte schon sagen, er ahnte tatsächlich, wohin er sich zu wenden hätte. Erleuchtung ist Sache der Neonkünstler.
Wolf Redl hat auch den Raum gestaltet. Einen Raum, durch den heißer, trockener Wind wehen müßte, einen Raum des nur scheinbaren Übergangs, der Vergeblichkeit: Links führt eine Treppe nach oben und bricht dann ab, drei unterschiedlich große Bogendurchgänge in der Wand führen nirgendwohin, und der rechteckige Versammlungsplatz hat zwei Zugänge, die jenseits des Blickfeldes über Eck durch einen Gang verbunden sind. Daß alles weiß getüncht ist, verstärkt den Eindruck: wenngleich mit Attributen eines Palasts versehen, ist dies doch letztlich eine Zelle (oder andersrum).
Wir sind im Reich der Vögel. Alles flattert und pickt so vor sich hin, ein Pfau, eine Nachtigall, ein Wiedehopf, wer weiß, was es im alten Persien alles für Vögel gab. Plötzlich kommen sie auf die Idee, man brauche einen König. Ausgerechnet der Wiedehopf, der Stink- und Kotvogel, ist zum „Wegboten“ ausersehen, er kennt „Gott und die Geheimnisse der Schöpfung“ und will die Vögel führen, zum Großen Simurgh. Doch weil es ein mühsamer Weg dorthin sein soll, wollen es die anderen dann doch nicht so ernst gemeint haben, mit dem König. Jeder hat einen Grund, zu bleiben. Zu schwach, zu ängstlich, zu genügsam. Es hilft nichts, sie müssen los.
Und so ziehen sie denn durch sieben Täler: durch das Tal der Suche, das der Liebe, der Erkenntnis, des Nichtbedürfens, der Einheit, der Fassungslosigkeit oder Verwirrung, schließlich das der Entäußerung und Entwerdung. Dreißig von ihnen erreichen das Ziel. Verwirrt und erschöpft stehen sie dort, wo sie den Simurgh vermuten, und ein Wächter sagt: „Tausende von Welten voller Geschöpfe sind an der Pforte dieses Königs wie eine Ameise. Euch bleibt nur noch zu seufzen. Kehrt darum wieder um, o niedere Handvoll Erde!“
Und siehe, die Vögel sind weise geworden und voller Liebe. Oder nur müde? Jedenfalls picken sie dem Wächter nicht die Augen aus, sondern überlegen, ob dies eine Zurückweisung des „Großen Königs“ sei. „Aber kann denn von ihm überhaupt eine Schmach kommen? – Und wenn ja, muß sie sich da nicht in eine Ehre verwandeln für uns?“ Da gibt ihnen der Wächter ihre früheren Zweifel zu lesen und läßt sie erkennen, daß sie gemeinsam der Große König sind. Im Persischen heißt si murgh nichts anderes als dreißig Vögel.
Eines langen Tages Reise in das Licht, eine Erweckungsfahrt, der ganz hohe Ton. Andrea Breth jedoch hat ihn nicht im Visionären, sondern in der Dichtung verankert. Als Vorspiel ist von Gott die Rede und von der Erschaffung der Welt. An Wirtshaustischen sitzen da die Schauspieler, schon als Vögel geschminkt, aber in langen, schwarzen Mäntel, mit Hüten, Bärten und verfilztem Haar. Eine Gemeinschaft frommer Juden, ewig wandernd, bei kurzer Rast?
Ein religiöses und dichterisches Motiv, und tatsächlich sitzt auch einer am Lesetisch, fährt mit dem Finger übers Papier, später hantiert der „Schreiber“ mit der Schreibmaschine. Beides, Lesetisch und Schreibmaschine, gab es auch in Andrea Breths vorletzter Inszenierung, dem „Orestes“. Nicht das wahre Leben ist die Bezugsebene, sondern seine Vermittlung, seine geflügelte Betrachtung. Nachdenken über verdichtete Kommunikation. Zwischen Federkiel und Sprachlosigkeit die poetisch geregelte Moderne.
Ganz zauberhaft verwandelt sich das Ensemble dann in die Vogelschar. Ruckelt und äugt, ein Chor des Gurrens, Pfeifens und Federschüttelns. Dazwischen Musik, Brausendes, aber auch Violinenziehen und barock Pochendes von Michael Nyman. Und wie die Vögel anfangs losziehen, wie sie sich zu einem geheimen Sturmtrupp des Suchens formieren und die Treppe hinaufziehen! Dann plötzlich Stopp, „Licht!“, einer ist die Treppe hinabgefallen, als wäre es ein Unfall in der Aufführung. Zweifel der Gruppe, fragender Unmut wie auf einer Probe.
Solche Brüche sind neu bei Andrea Breth. Pragmatismus zwischen magischem Irrlichtern, widerstrebende Collageelemente. Die Aufforderung zur Königsfindung etwa kommt schnarrend über Lautsprecher wie historische Propaganda. Ein Schatten der Wirklichkeit wird eingelassen, ein Moment der strukturellen Analogie sacht angedeutet. Fanatismus hier wie dort, hier aber ist die Dichtung, die ihn ins Geistige wendet. Ein humanistisches Märchen.
Manchmal klingt der Text natürlich wie eine Sammlung zerebraler Wahrsprüche, das bleibt wohl nicht aus. Und wenn die Vögel sich raunend über brennende Kerzen beugen, ist auch das eigene Nickerchen nicht fern. Aber im ganzen ist es doch ein angenehm offener, kunstfertig zerrissener Traum von der Möglichkeit, irgendwo anzukommen. Er endet nach zwei Stunden – und keineswegs in ekstatischer Gewißheit.
Wieder am 12., 15., 16.1., 20 Uhr, Schaubühne, Cuvrystraße 7
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