: Der „Iro“ macht noch lange keinen Anarchisten
Über die sowjetische „Konföderation der Anarchosyndikalisten“ (KAS) — Sozialisten der letzten und Grüne der ersten Stunde/ Betrachtungen zum schwarzrotgrünen Untergrund in der UdSSR ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
„Warten Sie auf uns neben dem Hochhaus an der Station ,Barrikdnaja', dort kommen wir jeden Sonntag gegen 11 Uhr 40 an die Oberfläche!“ Pjotr Rjabow, ein ordentlicher junger Mann mit dunkelblondem Pagenkopf und dicken Brillengläsern entspricht bei dieser Ankündigung gar nicht dem Klischee des finsteren Anarchisten mit tief in die Stirn gezogenem Hut und Bombe in der Tasche, er wirkt auch nicht, als verbrächte er sein Leben im Untergrund. Tatsächlich ist hier auch nur von der Metro die Rede, in der sich Aktivisten der Moskauer „Konföderation der Anarchosyndikalisten“, abgekürzt: „KAS“, allwöchentlich mit Interessenten versammeln, um zu einem kleinen gelben Haus in der Nähe zu ziehen, dem „Museum für Jugendorganisationen“. Hier, gegenüber der polnischen Botschaft, hält die KAS eine anarchistische Sonntagsschule ab. Die Nachbarschaft ist heute besonders aktuell, denn Pjotr spricht vor dem Hintergrund schwarzer Fahnen und Anarcho-Reliquien zu etwa 20 Leuten über den Anteil der Anarchisten an den jüngsten politischen Umwälzungen in Polen. Lehrveranstaltungen wie diese finden seit vier Jahren statt. Bombenlegen wird nicht unterrichtet, denn die KAS- Anhänger verfechten den Weg der Gewaltlosigkeit und finden dafür sogar bei ihren Urgroßvätern, Bakunin und Kropotkin, einige Grundlagen.
Propaganda statt Terror ist die Devise der sowjetischen Anarchosyndikalisten, deren Anhänger sich — herrscht hier ein geheimes Gesetz? — in den verschiedensten Städten aus Pädagogischen Hochschulen rekrutierten. So gründeten vor einigen Jahren Moskauer Junglehrer die dezentrale Großkommune „Obschtschina“. Geblieben sind davon gelegentliche zwanglose „Familientreffen“ und eine gleichnamige Zeitschrift, die mit einer Auflage von 30.000 Exemplaren zu den führenden Blättern des Moskauer Samisdat gehört. Neue Periodika kamen hinzu, seit sich die KAS, genau vor einem Jahr, als überregionale Union konstituierte. Andrej Issajew, 26 Jahre, wird zusammen mit Alexander Schubin in der sowjetischen Presse, entgegen dem anarchistischen Selbstverständnis, gern als „Führer“ bezeichnet. „Früher kannten wir uns alle persönlich“, seufzt er, „und wenn ich jetzt irgendeinen wildfremden Menschen mit unserem schwarzroten Button treffe, bin ich immer leicht erschrocken“.
High-tech-Anarchos mit Computer, Fax und Kopierer
Heute gibt es in 62 sowjetischen Städten anarchosyndikalistische Gruppen, massiert in der Ukraine — nicht nur wegen der berühmt-berüchtigten Tradition des dortigen anarchistischen Heerführers „Väterchen“ Machno aus dem Bürgerkrieg um 1920, der seine Gegner so listig täuschte, daß sie sich untereinander beschossen. Sind die Anarchosyndikalisten in der Sowjetunion ein politisches Potential? Neben den 30.000 bis 50.000 Mitgliedern, wie sie heute schon Neuparteien wie die Sozialdemokraten oder die Manchester-liberale „Demokratische Partei Rußlands“ des Deputierten Nikolaj Trawkin und des Schachweltmeisters Gary KASparow aufbieten können, nehmen sie sich aus wie ein versprengtes Häuflein. Aber die KAS will auch keine Partei werden und schon gar keine parlamentarische, sondern ein „Klub von Gleichgesinnten“. Ein fester Mitgliedsstatus wurde von vornherein ausgeschlossen. Karteileichen sind daher undenkbar, ins Auge fällt nur, wer kräftig mitarbeitet, und das sind, so schätzt man, unionsweit etwa 2.000 Aktivisten.
Die KAS-Gründung schuf Mißverständnisse. „Es zog allerhand Leute zu uns“, klagt Andrej, „die ihren persönlichen Anarchismus nur darin erblickten, daß sie als „freie Persönlichkeiten ein freies Leben führen“. Er bezieht sich dabei auf die populäre Leningrader Gruppe ASSA (Assoziazija Sekzij Swobodnych Anarchistow) und den winzigen „Bund Moskauer Anarchisten“, die sich von der KAS trennten. Beide Gruppen haben Sympathisanten in Kreisen, die den westeuropäischen Autonomen vergleichbar sind. Der Moskauer „Bund“ schreckte aber auch nicht vor einer gemeinsamen Veranstaltung mit Vertretern der faschistoiden „Pamjat“ zurück. „Manche haben sogar vorgeschlagen, das 'S' aus unserem Namen zu streichen“, vermerkt Andrej Issajew betont gelassen. Aber der „Syndikalismus“ blieb der Nabel, um den sich die Welt der KAS-Anarchos dreht.
„Wenn wir den Anarchismus in den Massenbewegungen propagieren, müssen wir uns anpassen: In einem Bergarbeiter-Streikkomitee kann man nicht mit einem Irokesenschnitt werben.“ Für diese Bemerkung erntet Andrej einen langen Blick seines Pferdeschwanz tragenden Freundes Kirill. Als hauptberufliche Mitarbeiter eines Viererteams repräsentieren die beiden eine neues, unabhängiges Unternehmen: den „Informations- und Beratungsdienst für die Arbeiterbewegung“. Die Computer, ein FAX-Gerät und Xerox-Kopierer spendete eine Stiftung des amerikanischen Millionärs ungarischer Abstammung Sores. Daß Dokumentation und juristische Beratung hier dennoch in Verquickung mit der anarchosyndikalistischen Bewegung erfolgen, zeigt sich am wöchentlichen Nachrichtendienst 'KAS KOR‘, der ebenfalls in diesen Räumen entsteht.
Ob es sich nun um den Mammutkongreß in Donezk handelt, auf dem die erste unabhängige sowjetische Bergarbeitergewerkschaft gegründet wurde, oder um den 30 Mann starken „gesellschaftlich-politischen Arbeiterbund“ in einer winzigen Fabrik im bjelorussischen Brjansk: 'KAS-KOR‘ bringt Daten, Resolutionen, Statuten und Statistiken. Eine Zusammenfassung des Bulletins wird jeden Sonnabend dreimal von der „Stimme Amerikas“ über die UdSSR verbreitet. Kleine Erfolge in den Provinzen zeigen sich schon. So ist zum Beispiel die anarchosyndikalistische Gruppe von Samara personell fast identisch mit dem örtlichen Streikkomitee. Einer der Begründer des heutigen russischen Neoanarchismus, Pjotr Petrowitsch Siuda, war Arbeiter. Er überlebte als Zeuge die Massenerschießung von Streikenden in Nowotscherkassk, 1962, sammelte Dokumente darüber, und wurde in diesem Mai von — wie die KAS-Vertreter meinen — Mitarbeitern der Staatssicherheitsdienste ermordet.
'KAS-KOR‘ gilt praktisch auch als Nachrichtendienst der „Konföderation der Arbeit“, eines eigentümlichen unionsweiten „Parlamentes der Arbeiterorganisationen“, eines lockeren Zusammenschlusses von Giganten mit Zwergen, Gewerkschaften, Clubs, Parteien und Forschungsprojekten. Wenn alle drei Monate der „Repräsentantenrat“ dieser Bewegung zusammentritt, werden die Anarchosyndikalisten als Mitveranstalter begrüßt. „Man schätzt uns dort wohl, weil wir uns nicht am Machtgerangel der Parteien beteiligen“, sinniert Issajew, „und weil für uns freie Gewerkschaften und das Eigentum der Arbeitskollektive an ihren Produktionsmitteln wirklich die Zukunft bedeuten“. Das Fiasko der Arbeiterselbstverwaltungen in Jugoslawien schreckt ihn nicht. Dort habe der Anarchosyndikalismus nie gesiegt, argumentiert er. Die Staatskontrolle in einigen Bereichen und das allgegenwärtige Diktat der Partei hätten zur allgemeinen Verantwortungslosigkeit führen müssen. Und: „Wenn es nach dem ersten Versuch einer bürgerlichen Revolution schon unter Robespierre in Frankreich zu keinem demokratischen Parlament mehr gekommen ist, folgert doch heute auch niemand daraus, daß die parlamentarische Regierungsform nicht durchsetzungsfähig sei.“
Echtes Kollektiveigentum wäre die Zauberformel gegen Streiks
Im Gegensatz zu allen namhaften neuen Parteien in der UdSSR sind die Anarchosyndikalisten nicht mit fliegenden Fahnen vom Staats- zum Privateigentum übergelaufen. Sie propagieren das Kollektiveigentum als dritte Form und „annehmbarsten Ausweg aus der Krise“. Nur so könne man Verantwortungsgefühl und Motivation der Arbeiter wiederbeleben. Außerdem handele es sich hierbei um die einzige Möglichkeit, den Übergang zur Marktwirtschaft ohne verheerende Streiks zu schaffen, denn im „eigenen Hause“ streike man ja nicht. Bedauernd fügen die KAS-Vertreter hinzu: „Leider verfügen wir noch nicht über genug politischen Einfluß, um Millionen von Menschen die Erfahrung zu ersparen, was Arbeitslosigkeit ist und wie man sich ohne soziale Garantien und als überflüssiges Mitglied der Gesellschaft fühlt — das wird die Tragödie einer Generation“.
Den Parteianspruch hält sich die KAS vom Leibe, offen hält sie gerade dadurch für ihre Mitglieder die Möglichkeit, einer Partei ihrer Wahl anzugehören. Eine „sozialistische Gesellschaft ohne Staat“ liegt auch für die Moskauer Anarchosyndikalisten historisch noch weit entfernt. Doch das Ideal bewirkt immerhin, daß die Forderung nach Eigenstaatlichkeit der verschiedenen Sowjetrepubliken für die KAS eine fast unzeitgemäß zweitrangige Rolle spielt. „Nicht nationale, sondern die allgemein demokratischen Ideen müssen uns den Weg weisen“, schreibt K. Kiknadse in der 'Obschtschina‘, und fordert die „Freiheit der Persönlichkeit einschließlich ökonomischer Souveränität“. Gesetzesreformen müsse man daran prüfen, wieweit sie den Zugang eines jeden zu Produktionsmitteln erleichterten. Die russischen Sozialdemokraten halten die Moskauer KAS-Vertreter für die „rechtesten Sozis in Europa“. Eher könne man sich schon einen „Block der Selbstregierung des Volkes“ mit verschiedenen Gewerkschaften und unter Umständen der winzigen „Sozialistischen Partei der UdSSR“ (245 Leute) vorstellen. Wobei man sich allerdings mit deren Führern gerade zerstritten hat.
Wie sähe der ideale Politpartner aus? „Wir wünschen uns von ganzem Herzen eine grüne Partei“, meint Andrej Issajew geradezu emphatisch. „Aber offenbar sind andere Probleme bei uns zu dringlich, um das Projekt heranreifen zu lassen. So haben uns die schwedischen Anarchisten gefragt, warum wir nicht in Moskau gegen die Umweltsünden von McDonald's demonstrieren. Aber wie können wir das vor der Schlange der Hungrigen?“
Lieblingsschüler entkrauten den Park der Familie Bakunin
Mit den Anarchisten verschiedener Länder, auch mit der spanischen FAI, unterhält die KAS enge politische Kontakte, doch gegenüber wirtschaftlichen Verflechtungen mit dem Westen ist sie mißtrauisch. Alexander Schubin, KAS-Mitgründer und Mitglied der „Moskauer Sektion für eine grüne Partei Russlands“ erläutert diese Bedenken: „Unser Verhältnis zu den Joint-ventures ist ziemlich gespannt. Wir fürchten, daß sie unser Land in eine Halbkolonie verwandeln werden, daß sich hier vor allem rohstoffaufwendige und energieaufwendige Produktionen etablieren werden, wie man sie in Westeuropa schon nicht mehr duldet. Die 400 Rubel, die der sowjetische Arbeiter zur Zeit durchschnittlich im Monat verdient, entsprechen nach dem realen Kurs etwa 40 D-Mark. Und wenn man ihm diesen Wert anstatt in Rubeln in Mark auszahlt, wird er auch noch schrecklich zufrieden sein. Das heißt, hier entsteht ein Markt von im Vergleich zur Dritten Welt relativ qualifizierten und dafür wahnsinnig billigen Arbeitskräften. Da entstehen Möglichkeiten für einen ungeheuerlichen Mißbrauch. Bei uns fehlt es an jeglicher ökologischer Kontrolle. Absprachen zwischen der Sowjetunion und Deutschland über die Lagerung radioaktiver Abfälle in unserem Land zeigen uns, woher der Wind weht. Wir glauben daher, daß es eine Angelegenheit örtlicher Selbstverwaltung und örtlicher Referenden sein sollte, zu entscheiden, welche Industrien errichtet werden.“
Als werterhaltend erweist sich der sowjetische Neoanarchosyndikalismus auch in der Kultur. Dies natürlich nicht an beliebigen Gegenständen, sondern an dem in unserer Zeit völlig vernachlässigten Landgut der Familie Bakunin, Premuchino, im Gouvernement Twer. Bakunins Vater hatte als junger Mann den Sturm auf die Bastille miterlebt und empfing hier die Dekabristen, jene unglücklichen Offiziere, die 1825 bei dem Versuch scheitern sollten, in Rußland für ein Parlament zu putschen. Zu Michail Bakunins Zeiten verliebten sich hier die jungen Philosophen Stankewitsch und Belinskij in diverse Bakunin-Schwestern. Auch die Dichter Turgenjew und Leo Tolstoi schauten vorbei.
In liebevoller Kleinarbeit machten sich letzten Sommer Schüler unter Anleitung der Moskauer Anarcho-Kommune daran, hier zu renovieren und dem verkrauteten Park das alte Gesicht wiederzugeben. Auf die Frage, ob es sich dabei um Anarchistenkinder gehandelt habe, antwortet Issajew ein wenig verwundert: „Wir sind ja doch selbst noch eine sehr junge Organisation.“ Im wesentlichen sei hier seine Lieblingsschulklasse mit von der Partie gewesen, die er trotz des neuen Jobs bei 'KAS-KOR‘ noch bis zum Abschluß unterrichtet. Die Ironie der Geschichte will es, daß sich jugendliches Image und pädagogischer Impetus der Anarchosyndikalisten immer wieder mit den Initialen des Komsomol verbinden. Nicht nur das gelbe Sonntagsseminargebäude, das bald ein „Museum des Anarchismus“ werden soll, entspringt diesem Verband, auch die beiden 'KAS-KOR‘- Räume liegen tief in einem Komsomol-Gebäude. Schließlich aber entstand eines der wichtigsten KAS- Projekte in der 'Komsomolskaja Prawda‘, wie Issajew augenzwinkernd betont, „trotz ihres Namens eine gute Zeitung“.
„Coming out“ im schwarzroten Ferienlyzeum
Im Herbst 1988 veröffentlichte eine Journalistin der Zeitung eine Reportage über den Gerichtsprozeß des 16jährigen Edik Tschalzew. Dieser hatte eine Bombe in das Parteigebietskomitee von Gorki (heute wieder Nischnij Nowgorod) geworfen. Edik bekräftigte vor Gericht, er sei froh, daß dabei keine Menschen zu Schaden gekommen seien, bedauere aber, daß das Parteigebietskomitee nur recht mangelhaft gebrannt habe. Zu ihrem Schrecken erhielt die Redaktion daraufhin Tausende Briefe von Jugendlichen, die Ediks Initiative „prima“ und „nachahmenswert“ fanden.
„Die Journalisten hielten uns für die geeigneten Autoritäten, um den Kindern nahezulegen, sich ein wenig politisch zu bilden, ehe sie zu Taten schritten“, schmunzelt Andrej Issajew. Im Oktober veranstalteten die Moskauer Anarchosyndikalisten erstmals ein „politisches Ferienlyzeum“. Die Schüler, die dazu aus allen Ecken und Enden der UdSSR zusammenkamen, erlebten hier so etwas wie ein Coming out. Viele trafen erstmals Gleichaltrige, die sich ebenfalls für Politik interessieren. Die Kleinen übernachteten im Gebäude der höheren Komsomolschule(!). Den Stundenplan bezeichnet Issajew als „mörderisch“: „Gegen acht waren sie wach, dann hörten sie bis etwa 20 Uhr Vorlesungen, um danach die halbe Nacht zu singen, zu schnattern und irgendwelche Manifeste zu verfassen“. Die Dozenten luden Repräsentanten verschiedenster neuer Parteien, Historiker und Ökonomen ein. Jetzt träumt Andrej von einer zweiten Nachrichtenagentur — speziell für Schüler. Das nächste Ferienlyzeum soll vom 21. März bis dritten April stattfinden.
Doch vorher sind noch einige kleinere Anarchoereignisse geplant. Am 18. Februar in Moskau: Prozession und Meeting zum 70. Todestag Pjotr Kropotkins, und vom 16. bis 18. März in Leningrad ein großes Symposium zum 70. Jahrestag des Kronstädter Aufstands.
Und welche Perspektiven erwartet die Konföderation der Anarchosyndikalisten 1991? Fürchten sie sich nicht vor einem blutigen Putsch in den baltischen Staaten? Sehen sie nicht eine neue Diktatur herannahen, die ihnen ihre Hätschelprojekte empfindlich vereiteln könnte? „Das sind reale Gefahren“, meinte Issajew: „Wir müssen dann halt wieder ein Weilchen in den Untergrund.“ Und diesmal schließlich war vom politischen Untergrund die Rede, nicht mehr von der Metro. Zwinkernd fügte er hinzu: „Wir werden nach Freimaurerart in Presse und Gewerkschaften durch Propaganda und Aufklärung wirken. Daran waren wir doch auch in den Jahren vorher gewöhnt — und ehrlich gesagt, hat uns das konspirative Element zuletzt ein bißchen gefehlt!“
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