Der Hausbesuch: Undogmatisch zwischen Pu und Pauli
Als Student zog Manfred Paulsen nach Marburg. Er wollte eine bessere Welt, engagierte sich – bis heute gehört er zum Buchladenkollektiv „Roter Stern“.
Manfred Paulsen ist Buchhändler in Marburg. Er kam zum Studium – und anders als die meisten, blieb er.
Draußen: Paulsen wohnt auf einem Berg. Unten im Tal fließt die Lahn, sie trennt Marburg in zwei Teile. Vom Haus aus sieht er die Oberstadt mit dem Schloss. Und er sieht Wald.
Am Haus: Margeriten, Mohn, Zitronenfalter. Zu Paulsens Vorgarten führt eine steile Treppe und zur Wohnung im Erdgeschoss eine schwere Tür. Zwischen Gitterstäben vor dem Fenster klemmt ein platter Fußball.
Drinnen: Der Buchhändler ist am Ausmisten. „Das war alles pickepacke voll“, sagt er, „die Bücher standen dreireihig.“ Jetzt sind die Regale leer, stattdessen versperren voll gepackte Kisten den Weg zum Schreibtisch. Im Nachbarzimmer setzt sich das Gestapel fort.
Leben: Das Schloss sieht Paulsen von seinem Fenster aus nur, wenn es beleuchtet ist. Tagsüber ist er sowieso auf der anderen Lahn-Seite. Dort steht der Buchhändler sechs Tage in der Woche im Modernen Antiquariat der Kollektivbuchhandlung „Roter Stern“. Abends moderiert er häufig Lesungen. Selber lesen? „Mache ich nachts.“
Linker Buchhandel: Paulsens Vorgänger haben 1969 mit Büchertischen angefangen. Mao, Marx, Anarchisten, Protestschriften. Verkauf auf Tapeziertischen in der Mensa, auf Demos. Zu Paulsens Studienjahren gab es überall linke Buchhandlungen, heute führen er und die anderen zehn Leute im Kollektiv eine der letzten ihrer Art.
Nordlicht: Geboren ist Paulsen 1957, aufgewachsen in Heide zwischen Hamburg und der dänischen Grenze. Als „echter Dithmarscher“ komme er aus demselben Landkreis wie Friedrich Hebbel. „Dithmarschen war mal freie Bauernrepublik und wird schon von Marx und Engels erwähnt. Für Historiker ein kleines Schmankerl“, meint er nicht ohne Stolz.
Nach dem Abitur dann die Frage: „Wat machste?“ Paulsen, der Erste aus seiner Familie, der studieren konnte, entschied pragmatisch: Sozialpädagogik in Kiel. Das war dann aber doch nichts, „zu verschult“. Also beschloss er: „Jetzt machste, worauf du Lust hast: Politikwissenschaft und Soziologie.“
Und wo? „In Marburg schien wenigstens was los zu sein. Fülberth, Deppe, Abendroth. Das rote Marburg, das hatte natürlich was.“ Als Schüler hat Paulsen „die Reihe Rowohlt-Aktuell“ verschlungen. „Rote Bücher mit gelbem Rücken, die gibt’s heute gar nicht mehr. Mit brisanten Themen, Anti-AKW-Bewegung und, und, und.“ Auch in der Reihe erschienen: „‚Formen Bürgerlicher Herrschaft‘ von Reinhard Kühnl, Faschismusforscher. Auf dem Gebiet einer der Prominentesten.“ Und wo saß der? „Auch in Marburg.“ Die Sache war klar: „1979 bin ich dann mit meinem Seesack hierher getrampt und hab mich im evangelischen Studentenwohnheim niedergelassen.“
Nein sagen: „Als ich nach Marburg kam, war Startbahn West gerade aktuell.“ Flughafen Frankfurt. Wer wissen wollte, wie er zur Demo kommt, fand das im Roten Stern heraus. Die Buchhandlung und das angrenzende Café seien ein wichtiger Treffpunkt gewesen für „u-n-d-o-g-m-a-t-i-s-c-h-e Linke“. Paulsen erklärt, dass der Rote Stern immer parteiunabhängig war, Parteinahe kauften ihre Bücher in der Buchladenkette der DKP.
1989 wollte Paulsen wegziehen, mit seiner Freundin nach Westberlin, Kreuzberg. Fasziniert von den Museen, Theater, Buchhandlungen der DDR sei er gern „in Ostberlin rumgelaufen“. An Maueröffnung habe keiner gedacht. „Im September auf einer Konferenz zu Willi Münzenberg erklärte uns der höchste SED-Kader noch, dass der Trabi das wunderbarste Auto sei, wenn man die Zündung nur richtig einstellt.“ Alles kam anders: Im selben Jahr, in dem die Mauer fiel, zerbrach auch die Liebe. Und Paulsen blieb.
Times They Are a-Changin’. Vor dem Buchhändler liegt jetzt die Altersarmut. Auf Profit habe er nie großen Wert gelegt. Wenn es jetzt um die Rente geht, müsse er „vor einer jungen Sachbearbeiterin die Hosen runterlassen“, ihr erklären, was er im Monat verdient. Mit seinen Kollegen und Kolleginnen führt er in der Buchhandlung jeden Tag aufs Neue einen Kampf ums Überleben. Was anderes machen? Undenkbar.
Elf Buchhändler: Der „Rote Stern“ hat so viele Inhaberinnen und Inhaber, wie Spieler für eine Fußballmannschaft auf dem Feld stehen – „elf Buchhändler, wo gibt’s denn so was noch?“ Paulsen haut mit der Faust auf die Stuhllehne. In der Uni-Stadt schlägt sich die Buchhandlung wacker, trotz Amazon. Neben den Kollegen werden aber auch die Kunden älter. In der preisgekrönten Kinder- und Jugendbuchhandlung „Lesezeichen“, die zum „Roten Stern“ gehört, versorgt ein Teil der Belegschaft Lesenachwuchs.
Fan von Pu, dem Bär, ist der Buchhändler wegen Harry Rowohlt. „Auch undogmatischer Linker“, sagt Paulsen, „und großartiger Übersetzer“. Paulsen erinnert sich, wie Rowohlt während seiner Studienzeit in Marburg zu Gast war. „Und dann haste morgens mitgekriegt, dass Harry nachts noch bei Ralf und Joey in der Küche saß, in deren damaliger WG über dem Hauptgeschäft. Bevor die anderen aufgewacht sind, war der schon auf dem Weg zur nächsten Veranstaltung.“ Nachdem „Harry“ 2015 starb, saß Paulsens Plüsch-Pu mit schwarzer Armbinde im Ladenfenster.
Fußball: Der Marburger FC-St.-Pauli-Fanclub „Paulis Blonde Bräute“, in dem Paulsen als Präsident früher schwer aktiv war, ist mittlerweile eingeschlafen. Der Name des Clubs erinnert an den Roman „Kolks blonde Bräute“ von Frank Schulz. „Die anderen Protagonisten aus dem Fanclub haben Familie und keine Zeit mehr für Fußball“, sagt der Buchhändler. Selber Fußball spielen? „Der Rücken!“
Wann ist er zufrieden? „Einen wirklich guten Tag? Scheiße, den gibt’s gar nicht mehr.“ Paulsen überlegt. „Natürlich freust du dich, wenn du mit Buchtipps richtig liegst und die Leute sich bedanken, manchmal weißt du dann nicht mehr, wofür.“
Freundschaft: Auf dem Schreibtisch liegen Postkarten und Briefe. Seine ältesten Freunde, erzählt er, leben im Norden. An die denke er, wenn er Bücher von Leonardo Padura liest, seinem kubanischen Lieblingskrimiautor. Der war, eingeladen von Paulsen und dem Kulturverein „Strömungen“, auch schon zu Gast in Marburg – und Paulsen in den Neunzigern last minute in Kuba. Der Buchhändler mag Padura nicht nur, weil er über Revolutionäre schreibt, sondern auch über Freundschaft.
Und wie er Angela Merkel findet? Paulsen denkt nach. „Wir haben schon schlimmere Bundeskanzler gehabt“, sagt er dann.
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