: Der Geist läßt sich nicht behindern
■ Geistig Behinderte führen das Stück »Im Stehen sitzt es sich besser« im Maxim Gorki Theater auf/ Mehr als ein therapeutischer Modellversuch/ Die Zukunft der Schauspieltruppe ist jedoch ungewiß
Zehlendorf. Elf Menschen stehen auf der Bühne. Sieben von ihnen sieht man nicht auf der Straße, man trifft sie nicht beim Gemüsehändler, und auch beim Stadtteilfest tauchen sie nicht auf: Sie sind sogenannte geistig Behinderte, fest in ihre Heime oder therapeutischen Einrichtungen integriert und verbleiben üblicherweise in Fördergruppen und Behindertenwerkstätten.
Einen anderen Ansatz in der Behindertenarbeit versucht seit einem Jahr die Kunsttherapeutin und Schauspielerin Christine Vogt im Jugendwerkheim Zehlendorf: Professionelle Schauspieler spielen mit geistig Behinderten Theater. Im Stehen sitzt es sich besser ist der paradoxe Titel der Aufführung, die Ende letzten Jahres im Maxim Gorki Theater Premiere hatte und zu Gastspielen bis nach München und Zürich reiste. Die Kasper-Hauser-Resonanz nach Motiven von Meret Oppenheim ist mehr als ein therapeutischer Modellversuch: Die Akteure wechseln die Rollen, tanzen, robben und spielen ein Stück ihrer Realität — das Leben der Behinderten. Und der »normal« funktionierende Zuschauer sitzt da und staunt nur noch: Was die alles können! Und so staunten auch HdK- Studenten der Kunsttherapie vorgestern abend nicht schlecht, als sie mit der Dokumentation der Probenarbeit konfrontiert wurden. Der Geist läßt sich nicht behindern lautet das Resümee der Filmemacherin Andrea Hohnen, die das Theaterprojekt im Jugendwerkheim Zehlendorf mit der Kamera begleitete. »Es war ein Abenteuer für alle Beteiligten«, da sind sich Andrea Hohnen und Christine Vogt einig. Das künstlerische und gesellschaftliche Experiment ist geglückt — wie lange es fortbesteht, ist ungewiß.
Ein Jahr lang hätte die Truppe im Maxim Gorki Theater spielen können, wenn nicht die ersten Ausfälle gekommen wären. Eine der Schauspielerinnen wurde von ihrem Heimleiter zurückgepfiffen, die Sache sei für sie zu anstrengend. Sie schrieb, heulte, tobte — aber wer hört schon auf geistig Behinderte. Andere wurden von ihren Eltern vom Theater abgebracht, teils aus gesundheitlichen Gründen, teils aus ganz anderen Ängsten heraus. »Es gibt oft ungeheuer starke Symbiosen zwischen Müttern und ihren geistig behinderten Kindern«, erzählt Christine Vogt. »Dieses System der totalen Versorgung und der völligen Abhängigkeit zu knacken dauert sehr lange.« Und, so mutmaßt Christine Vogt, vielen der Einrichtungen war die Arbeit zu kompliziert. »Die Behinderten werden geeicht auf ihren Tagesrhythmus. 7.30 Uhr aufstehen und pünktlich um neun ins Bett. Da bringt einer, der erst um elf von der Bühne kommt, plötzlich das ganze System durcheinander.«
Doch nicht nur mit Eltern und Heimleitungen hat sie zu kämpfen, auch das Bezirksamt Zehlendorf hält sich mit einer Aussage zur Zukunft des Projekts sehr bedeckt. Christine Vogt will das Schauspiel als neue Fördergruppe im Jugendwerkheim integrieren. Das Amt hielt sich jedoch zurück: Die Arbeit bereite nicht auf einen zukünftigen Arbeitsplatz vor. Von den acht Schauspielern rechnet die Kunsttherapeutin bei der nächsten Aufführung noch mit zweien. Orpheus und Eurydike steht ab Mitte Oktober auf dem Probenplan des »Theaters Thikwa«. Doch Christine Vogts Pläne gehen noch weiter: »Ich möchte, daß Behinderte auch einmal bei einer ganz normalen Produktion mitspielen. Aber daran muß natürlich lange gearbeitet werden.« Warum sie so ehrgeizig dieses Ziel verfolgt? »Ich will, daß der Zuschauer den Raum verläßt und sich fragt, warum man solche Menschen nicht beim Gemüsehändler trifft und sie zeitlebens im System der totalen Versorgung und Unselbständigkeit bleiben.« Das jedenfalls ist ihr gelungen. Jeannette Goddar
Für Orpheus und Eurydike werden noch theaterinteressierte Menschen mit geistiger Behinderung gesucht. Telefon: 3126628.
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