: Der Garten der Qualen
■ Octave Mirbeaus berühmter Roman beunruhigt noch immer
Die Grundgedanken des 1899 erschienenen Romans lesen sich heute wie Kommentare zur aktuellen Berichterstattung: „Der Mord ist das eigentliche Fundament unserer sozialen Einrichtungen, [...] gäbe es keinen Mord, gäbe es auch keinerlei Regierungen mehr. [...] In diesem Geschäft ist es wie in jedem anderen, die Kleinen müssen für die Großen bezahlen.“
Unter dem Eindruck der Hysterie von Dreifus-Affäre und China-Krieg diskutieren in einer Art Rahmenhandlung Schriftsteller, Philosophen und Politiker die These, „daß der Mord der Hauptantrieb der Menschheit ist“. Diese wird in der folgenden Lebensbeichte eines anonym bleibenden Erzählers konkretisiert: Ein französischerIntellektueller flieht nach gescheiterter Karriere als Politiker aus dem krisengeschüttelten Paris, um an einer „Forschungsexpedition“ in Ostasien teilzunehmen. Dabei lernt er eine junge Engländerin kennen, die sich bald als exzentrische, grausam-lüsterne Megäre entpuppt und ihn Stufe um Stufe in den Garten der Qualen einführt.
In China — Antithese und zugleich Metapher europäischer Zivilisation — wird er mit infernalischen Praktiken ausgeklügelter Foltermethoden konfrontiert, die von einem ebenso übersteigerten Blumen- und Schönheitskult begleitet werden. Es sind Phantasmagorien des Schreckens, der Liebe und der Qualen. Ihre aufs äußerste verfeinerten Grausamkeiten sind zwar Allegorien auf das ausgehende 19.Jahrhundert, doch von der einstigen Provokation bleibt noch immer der moralische Appell.
Heute muten Mirbeaus ästhetisierende und bombastische Übertreibungen an wie eine Mischung aus Emmanuelle und Bürgerkrieg, décacence und amnesty international, befremden oder reizen bisweilen zum Lachen. Wendet man sich nach der Lektüre wieder der aktuellen Realität zu, bleibt das Lachen im Halse stecken. Denn Mirbeaus provozierende Schilderungen sind nicht als pure Wahnvorstellungen des Fin de siècle abzutun, als grausame Blüten eines längst verblichenen Jugendstils, sie sind in nuce Bestandteil unseres (verdrängten) Bewußtseins geworden.
Literarisch blickt der Autor auf eine stattliche Ahnengalerie zurück. Auf de Sade, Poe, Quincey, Baudelaire und Huysmans; er nimmt nicht nur Gide, Malraux und Kafka vorweg, sondern auch manchen Report moderner Massenmedien. Der Garten der Qualen erschien jetzt in neuer Übersetzung in der „Erotischen Bibliothek“ des Münchener Schneekluth-Verlages, die neben raren Romanen und Biographien auch kulturgeschichtliche Betrachtungen und naturwissenschaftliche Abhandlungen enthält. Die sorgfältig übersetzten und kommentierten Ausgaben spekulieren nicht auf das anonyme Massenpublikum— schon der Preis zwischen 40 und 60DM verbietet das —, sondern wenden sich an eine kulturgeschichtlich orientierte Leserschaft, die geistige Auseinandersetzung sucht— und reichlich findet. Manfred E. Nöbel
Octave Mirbeau: Der Garten der Qualen. Roman. Aus dem Französischen von Susanne Farin. Mit einem Essay von Michel Delon, einer Lebenstafel und einem Editionsbericht. Schneekluth, München 1991, 349Seiten, Leinen, 44DM
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