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Der Frack war zu eng

■ Christoph Kellers zweite Erzählung

Pianist sein ist ein Streß, dabei aber noch Figur behalten mörderisch. Stellen Sie sich vor, Sie spielen CD um CD ein, die Menschen in den Konzertsälen atmen mit Ihren Fingern, die Töne schmelzen glasklar unter Ihren Händen — dann kommen Sie zu Ihrem Schneider in Genf, und der schüttelt nur den Kopf, als er den neuen Frack anpaßt.

Das erträgt keiner. Entweder Sie nehmen Tabletten, oder Sie reisen ab.

Robert Vleedenstedt reist ab.

Seit er zunimmt, soll er überall spielen. Sein Spiel sei so „innig“ geworden, „innig“ ist in, also will man ihn haben. 30 Konzerte in 30 Städten hat sein Agent in den USA vereinbart.

Vleedenstedt sieht seinen Schneider über den engen Frack lächeln, erinnert sich an seinen Großvater und Tante Elfriede und fliegt nach Amerika. Nach Boulder will er dorthin, wo die Tournee beginnen soll, um seinem Agenten und der Tournee zu entgehen.

Wie ist das Wetter in Boulder? ist flott, nicht platt, erzählt. Die persönliche Krise des Piano-Genies Robert Vleedenstedt gibt keinen Anlaß, in die Verästelungen einer sensiblen Künstlerseele zu steigen. Der Künstler ist der Außenseiter, in dessen fremdem Spiegel Normalität sich bricht und auffällig wird. Während alle etwas — meistens dem Geld — nachhasten, ist Vleedenstedt nur bei sich und seinen Erinnerungen.

Die eigene, natürlich ein bißchen schräge Welt gegen die anonyme der Katastrophen und Unwägbarkeiten. Da sprüht ein satirisches Feuerwerk, aber Keller hält es schön farbig, seine Raketen verfliegen in Funken und schlagen keine Löcher.

Ob es um Kulturbetrieb, Ärzte, das Fliegen oder um Auslandsschweizer geht, immer werden Themen nur angerissen. Das ist um so böser, je lustiger es wird, und man denkt an Sekt, dessen Bläschen schon zerplatzen, wenn der Geschmack sich entfaltet.

Weil unser täglich Leid aber irgendwie schon immermal da war und wir beim Lesen auch gerne bekannte Figuren in neuen Kleidern wiederentdecken, zieht Keller seiner „amerikanischen Erzählung“ eine zweite Ebene der griechisch-römischen Mythologie ein, die den Bildraum von Vleedenstedts Phantasie bestimmt und ihn blind macht für das pragmatische „Hand anlegen“ von Tag zu Tag.

Der Ikarus des Hoorner Großvaters ist eine immerwährende Warnung vor allem, was zu hoch hinaufführt, und Tante Elfriede, die Norne, die Pythia, die Meeresgöttin, die in ständigem Gemurmel auf ihrem Meer aus Gin und Billigweinen ihren Träumen hinterher- und aus dem Alltag wegschwimmt, erträgt ihr Lottoglück nicht. Wie ist das Wetter in Boulder? ist auch eine Geschichte zum Thema Glück.

Man denkt noch an Orpheus und Sisyphus, der Kennedy Airport erscheint Vleedenstedt als Hades mit Cerberus, Moder und Schwefel, und mitten im Inferno mit seinen grotesken Bettlerfiguren taucht Beatrice auf, die nie erreichte Geliebte Dantes, und führt den Helden aus der Vorhölle zum Taxi.

Was da so leichtfüßig daherkommt, ist keine Kitschgeschichte. Keller ist mit Wie ist das Wetter in Boulder? vielmehr ein Lesevergnügen gelungen, das an die amerikanischen Erzähler vom Schlage Bellows erinnert und wie sein erster Prosatext Gulp eine Geschichte raffiniert erzählt, ohne den Leser mit den Problemen des Erzählens zu ermüden.

Das ist mehr als rar in der Landschaft der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Gerhard Mack

Christoph Keller: Wie ist das Wetter in Boulder? Eine amerikanische Erzählung. Collection S.Fischer, 16,- DM.

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