Der Fortsetzungsroman: Kapitel 1: Auf der Suche nach Mütterchen
Sie hieß Hildegard Lücke, nannte sich Ellis Heiden, war Schauspielerin und ungemein praktisch veranlagt. Nur: Wie schreibt man ihr Leben auf, wenn man ihre Enkelin ist?
Die Vorstellung war miserabel. Hilde wusste es in dem Augenblick, als die Vorhänge über die Bretter der kleinen Bühne wischten und in der Mitte zusammenschlugen. Sie wusste es, während sie sich aus der Rolle der Eve herausschälte und nach Ludwigs Hand griff, der im Kostüm des Dorfrichters Adam neben ihr stand. Sie wusste es, ehe der Applaus einsetzte, der verriet, dass die Damen und Herren, die da im Zuschauerraum ihre Handflächen gegeneinander schlugen, mit den Gedanken schon ganz woanders waren. In der Kneipe nebenan, im Bett mit dem Sitznachbarn. Einige klatschten so gelangweilt, die waren im Kopf vermutlich schon wieder im Büro am nächsten Morgen.
„Kommste noch mit“, fragte Ludwig auf dem Weg zur Garderobe, „einen Krug auf die Scherben vom ’Zerbrochenen Krug‘ trinken?“ Hilde schüttelte den Kopf. „Heute nicht“, sagte sie, „bin noch verabredet.“ Sie warf die Garderobentür zu. Draußen grummelte Ludwig: „Im eigenen Theater die Tür vor der Nase zugeschlagen. Bin immerhin der Direktor dieses Etablissements!“
Eilig streifte Hilde Eves Kleid ab und schlüpfte in den Hosenanzug, tunkte hastig ein Tuch in die Vaseline, rieb die Schminke ab, wusch das Gesicht, zog Augenbrauen und Lidstrich nach, tuschte die Wimpern und trug Rouge auf. Noch etwas Puder. Fertig.
Jetzt war sie wieder sie selbst: Die Schauspielerin Ellis Heiden auf dem Weg zu ihrem Verlobten Dr. med. Erich Goldschmidt.
Er wartete am Hinterausgang. Sie sank in seine Arme. Er küsste sie. „Du warst bezaubernd“, sagte er. „Blödsinn“, sagte sie und richtete sich auf, „grottenschlecht war ich. Zweimal hab ich meinen Einsatz verpasst und einmal wär ich fast gestolpert, weil Ludwig seinen Umhang hat liegen lassen. Aber du weißt ja: Der Lappen muss hoch! Hast du ’ne Zigarette?“ Erich zog das Etui aus der Manteltasche. „Hast du Hunger?“, fragte er. Sie nahm die Zigarette, er gab ihr Feuer. „Ich könnte einen Ochsen verdrücken“, sagte sie, blies den Rauch in die Nacht und hakte sich bei ihm unter. Sie liefen die regennasse Straße entlang.
„Wie war dein Tag?“, fragte Hilde. „Ach, normal“, sagte Erich, „paar Beschimpfungen, ein paar Behandlungen. Das Übliche.“ – „Was’n passiert?“, fragte Hilde. – „Willst du das wirklich wissen?“ – „Solln die Frage? Ich bin deine zukünftige Ehefrau. Natürlich will ich das wirklich wissen!“ Erich seufzte, zog im Gehen eine Zigarette hervor, zündete sie an. „Max, der Sohn von der Gemüsehändlerin, erinnerst du dich?“ – „Der kleene Blonde?“ – „Ehmderselbige. Der hat mich heute gefragt, warum ich gar keine jüdische Nase habe.“
Aus einer Kneipe am Mainufer hallte Gesang: „Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen …“
ist Berliner Autorin und Schriftstellerin,
liest seit 2003 auf Lesebühnen und Poetry-
Slams in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ihr
neuestes Buch heißt „Berlin ist eine Dorfkneipe“.
Die Nase. Ausgerechnet! Entnervt stoße ich mich vom Tisch ab und drehe mich zum Fenster. „Sie sank in seine Arme. Er küsste sie.“ Klingt einwandfrei nach Groschenroman. Mütterchen würde sich totlachen. Fehlt eigentlich nur noch, dass sie ohnmächtig wird und er sie wiederbeleben muss. „Seine starken Arme hielten sie fest. Der Geruch seines Rasierwassers war das Letzte, woran sie sich erinnerte.“ Nee! „… war das Letzte, was sie wahrnahm, bevor ihr die Sinne schwanden.“ Großartig! Das ist Literatur!
„Mistkacke!“, sage ich laut und gehe in die Küche. Kaffee aufsetzen. Wäschewaschen müsste ich mal wieder. Gehe stattdessen aufs Klo. Muss aber gar nicht. Stelle mich vor den Spiegel und untersuche mein Gesicht. Da! Eine verirrte Augenbraue. Meine Pinzette ist erbarmungslos. Der kurze Schmerz verschafft mir Genugtuung. Wenn schon nichts geschafft, so doch wenigstens gelitten.
Mütterchen hatte die Augenbrauen so ganz hoch oben. Wie Jean Harlow. Die war nur ein Jahr älter als meine Oma und schon ein Star 1936, als Mütterchen bei der Wanderbühne Frankfurt am Main war. Genau gesagt war sie da schon fast wieder tot. Harlow starb 1937. Meine Großmutter starb 2005. Geboren als Hildegard Lücke, legte sie sich noch auf der Schauspielschule den Künstlernamen Ellis Heiden zu, „damit, falls ick ma berühmt werde, denn nicht irgendson Schreiberling kommt und in sein Käseblatt kritzelt: ’Eine Lücke hat sich aufgetan auf den Brettern, die die Welt bedeuten.‘“ Sie war eben Zeit ihres Lebens eine ungemein praktisch denkende Frau, meine Großmutter. Für uns hieß sie Mütterchen.
Ich gucke in den Spiegel. Hatten die überhaupt Einzelgarderoben bei der Wanderbühne? Die hatten doch nicht mal Requisiten, richtige. Ich schmeiße die Pinzette ins Waschbecken und gehe zurück zum Schreibtisch. So geht das alles nicht!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Syrien nach Assad
„Feiert mit uns!“