: Der Fluch der frühen Jahre
Eine 20 Millimeter dünne Kunststoffhülle soll Hamburgs überaltetes und marodes Sielnetz vor weiterem Verfall bewahren ■ Von Achim Hurrelmann
Ein fauliger Gestank steigt aus dem schmutzigen Wasser auf, das aus zwei großen Rohren langsam in ein Sammelbecken fließt. In der „Bootskammer“ unterhalb der St. Pauli-Hafenstraße laufen zwei Hauptsiele mit einem Durchmesser von jeweils mehr als zwei Metern zusammen. Von hier aus starten Mitarbeiter der Stadtentwässerung zu Inspektionsfahrten ins unterirdische Sielnetz, während das Wasser von vier großen Pumpen zum Klärwerk weitergeleitet wird. „Man gewöhnt sich an den Gestank“, versichert Gerd-Dietrich Ewert, Hauptabteilungsleiter bei der Stadtentwässerung.
Einige Stufen der Eisenleiter, die an der Wand hängt, sind fast völlig weggerostet. Das Backsteingemäuer, das die Innenwand der alten Siele bildet, ist an vielen Stellen gelblich verfärbt. „Reiner Schwefel“, sagt Ewert, während er ein Stück Putz herausbricht. Das Sielnetz in Hamburgs Untergrund wird morsch. „Im Abwasser bilden sich Faulgase, die Schwefelwasserstoff und Salpetersäure enthalten und das Mauerwerk angreifen“, erklärt Ewert. Mit weitreichenden Folgen: „Steine brechen aus dem Mauerwerk heraus, Boden und Grundwasser dringen ins Siel ein, außerhalb des Sieles entstehen Hohlräume, die zu Straßeneinbrüchen führen können“, beschreibt Ewert die möglichen Folgen.
Allein im vergangenen Jahr kam es in der Hansestadt zu 30 Straßeneinbrüchen wegen Sielschäden, denn das Netz ist überaltert: Statistisch gesehen hält ein Siel durchschnittlich 77 Jahre; gut 500 Kilometer des Hamburger Netzes sind aber bereits mehr als 100 Jahre alt. Der Fluch der frühen Jahre, denn Hamburg war eine der ersten Städte auf dem Kontinent, die unterirdische Abwässerkanäle anlegen ließ: 1843 begann der englische Ingenieur William Lindley mit dem Sielbau. Nach Einschätzung der Stadtentwässerung sind etwa 150 Kilometer des insgesamt 5300 Kilometer langen Netzes dringend erneuerungsbedürtig.
Angesichts solcher Probleme besinnt sich die Stadtentwässerung nun auf Vorbeugung: In den kommenden 20 Jahren sollen insgesamt 400 Kilometer der alten Mauerwerksiele von innen mit einer 10 bis 20 Millimeter dicken Kunststoffschicht verkleidet werden. Dieses bisher nur vereinzelt angewandte Verfahren könne die Lebensdauer der Siele um bis zu 50 Jahre verlängern, hofft Ewert.
Das würde nicht nur Baustellen vermeiden, sondern auch die Sache verbilligen: 160 Millionen Mark muß die Stadt allein in diesem Jahr für Erneuerung und Sanierung ausgeben. Insgesamt wird die Sanierung der Siele in den nächsten 20 Jahren über drei Milliarden Mark kosten, schätzt die Stadtentwässerung.
Mindestens, denn Licht ist am Ende der Abwassertunnel noch lange nicht zu sehen: „Wir erneuern ungefähr 15 Kilometer pro Jahr“, seufzt Ewert, „aber mindestens dieselbe Strecke kommt jährlich neu auf unsere Prioritätenliste“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen