: Der Drang zur Erinnerung
■ Am Thalia Theater kreiert der Librettist Marc Neikrug mit Through Roses, einem Stück über den Geiger aus Auschwitz, ein neuartiges Musik-Theater
Eigentlich ist Marc Neikrug Komponist. Für seine bisher erfolgreichste Arbeit hat er allerdings auch den Text geschrieben – ein Libretto für eine Oper, die keine ist. „Ich hatte mir die Möglichkeit gewünscht, ein Stück zu schreiben, in dem der Text nicht von einem Sänger gesungen, sondern von einem Schauspieler gesprochen würde“, erzählt der 1946 in New York geborene Tonsetzer. „Wenn die Texte gesungen werden, sind sie etwa dreimal so lang, und ich wünschte mir, daß sie näher an der Realzeit blieben.“ Das Thema von Through Roses begegnete Neikrug eher zufällig. „Ich saß in England bei einer Probe, und irgend jemand saß neben mir und zeigte auf einen Cellisten und sagte: ,Dieser Mann mußte in Auschwitz Bachs Solosuiten spielen, während die Menschen zur Gaskammer gingen.' Das war das erste Mal, daß ich das hörte, und es hat mich schockiert.“ Neikrug suchte ein Jahr lang Überlebende, befragte Zeitzeugen, sammelte O-Töne. „Ich wollte meinen Text nicht selber schreiben, das war eine Notlösung“, meint er heute. Fünfzehn Monate später war Through Roses fertig und wurde im August 1980 in der Londoner Queen Elisabeth Hall uraufgeführt.
Als Monolog angstvoller Erinnerung, inszeniert Through Roses die traumatische Rückkehr der Gedanken eines längst gealterten Geigers zum Ort seiner größten Schrecken: dem Todeslager, das er überlebt hat. Wie jener Cellist, der Neikrug begegnete, mußte auch dieser Violinist spielen, während die anderen sich ihrem Tod näherten. Auch Jahrzehnte danach spielen sich in seinem Kopf die immergleichen Szenen wieder ab.
Auf der Bühne steht neben dem „Geiger“, der von Cristoph Bantzer verkörpert wird, ein acht Mann starkes kleines Orchester mit Orchesterchef. Die Musik ist für diesen Text mehr als reiner Hintergrund, mehr als nur Untermalung – sie wird zum Katalysator, aber auch zum gleichwertigen Element des Ausdrucks, unverzichtbar wie das Orchester einer Oper.
„Nach der Uraufführung in London waren die Kritiken vernichtend“, erzählt Neikrug, dessen Werk in den vergangenen fünfzehn Jahren dann in unzähligen Inszenierungen zwischen Norwegen und Südafrika, New York und Wien, zum begehrten Spielplanelement wurde. „Wenn ich jetzt irgendwo eingeladen werde, ist es so, daß ich einen sehr objektiven Blick auf das Stück habe, fast so, als wäre es nicht von mir.“ Für die drei Aufführungen im Thalia Theater mischt sich Neikrug allerdings deutlicher ein und übernimmt die musikalische Leitung des von Jürgen Flimm szenisch eingerichteten Werks selbst.
Thomas Plaichinger
Thalia Theater: 18. 5., 19 und 22 Uhr/ 19.5., 19 und 21.30 Uhr sowie 21.5., 22 Uhr
Jürgen Flimm und Marc Neikrug (links) lassen den Geiger (Christoph Bantzer) vor dem Orchester wüten Foto: Markus Scholz
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