: Deplazierte Jubilarin
■ André Hellers Superillu »Wintergarten« in der Freien Volksbühne
Als »einen Salut für letzte Könner aussterbender Künste« betrachtet der Wiener Waberkünstler André Heller seine Varietéproduktion Wintergarten, die am Freitag abend im Theater der Freien Volksbühne mit begeisterten »Ah«- und »Oh«-Rufen im Zuschauerraum aufgenommen wurde. Der Berufsfaszinator, der mit Großereignissen wie Flic Flac, Theater des Feuers und Begnadete Körper, aber auch mit einer hassemergestützten Schneeflockenattraktion in der Berliner City Herzen und Beutel berührte, rührt nun noch einmal mit einer melancholisch-romantischen Show zirzensischer Attraktionen, die so wohl nie wieder zu sehen sein wird, bis zum Jahresende zweimal täglich.
Für viele der 60 bis 70 Jahre alten Künstler, so Heller, sei es die letzte Premiere ihres Lebens. Der Abend der Illusionen fand zum Geburtstag der 72jährigen Liliputanerin Olga statt, die einst im Wintergarten am Bahnhof Friedrichstraße Varietégeschichte erlebte. Die Kollegen von einst gaben ihr zu Ehren ein Stelldichein. Der indische Schattenspieler »Rao« zauberte mit seinen Fingern eine ganze Menagerie auf die Leinwand und konnte allein mit Händen und Haaren auf einer imaginären Wiese ein Liebespärchen zum Flirten bewegen! Als weltbester Musikalclown angekündigt, entlockte »Tessi« allen nur erdenklichen Instrumenten und Gegenständen Töne und Melodien, spielte gar Saxophon und Trompete auf einmal! Die Illusionisten »Milo und Rogers« ließen erst diverse Gegenstände und dann eine leibhaftige Ente unter ihren flinken Fingern verschwinden und die »Clark Brothers« steppten mit ihren siebzig wie einst im »Cotton Club« und sangen für die ansonsten leider etwas am Rande deplazierte Jubilarin »When I fall in love with you...«! Lachtränen flossen reihum bei der Parodie auf Ginger und Fred! Mit britischem Understatement zelebrierten die »Tanzbankrotteure« »The Konyots« die haarsträubendsten Hebefiguren! Ihren enormen Resonanzraum wußte die Kunstpfeiferin »Jeanette« wirkungsvoll zu nutzen, um Paul Linckes Glühwürmchen flimmere in Kolloratur-Manier zu trillern! Ebenso faszinierend, der Geräuschimitator »Jeff« und der Papierreißer »Heinrich der Letzte«.
»Solange das Varieté noch lebt, lebt das Staunen, und solange das Staunen noch lebt, hat die Banalität noch nicht triumphiert«, hieß es dann auch in »Igors« (sprich Hellers) Schlußgedanken. Der Liliputaner, der seiner Frau Olga zu Beginn der Show eine Liebeserklärung gemacht hatte, war aber eigentlich eine Frau, und von den angekündigten 35 Künstlern wirkten nur 12 mit, Zauberer und Blumenmeer fehlten. Was soll's? Wer in die glitzernde Welt des Varietés eintaucht, darf die Realität getrost vergessen! Und außerdem, die Show wäre sonst zu lang geworden, erklärte André Heller auf Nachfrage. adn/dpa/taz
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