: Den Zusammenbruch verhindern
Auszüge eines Vortrags des polnischen Sejm-Abgeordneten und Intellektuellen Jacek Kuron auf einer Fraktionssitzung vergangene Woche in Warschau ■ D O K U M E N T A T I O N
Das Programm des Bürgerkomitees Solidarnosc geht davon aus, daß wir im Lauf von vier Jahren eine friedlichen Übergang schaffen von einem totalitären zu einem voll demokratischen parlamentarischen System, von einer kommunistischen Wirtschaft zu einer Wirtschaft selbständiger Produzenten mit differenzierten Besitzverhältnissen zu einer vom Markt geleiteten Wirtschaft (Warenkapital), von einer Gesellschaft, die in Passivität und Enttäuschung verharrt zu einer demokratisch organisierten Gesellschaft, die selbst über ihr Schicksal entscheidet. Diese Veränderungen legen zugrunde, daß in zumindest bedeutender Weise die Unabhängigkeit des Staates erreicht wird, und sind zugleich notwendige Bedingung für die Durchführung freier Wahlen in vier Jahren.
Ein friedlicher Charakter dieser Veränderungen wird nur dann möglich sein, wenn sich im Lager der Staatsmacht entsprechende Gruppen finden, die an der Durchführung dieser Veränderung interessiert und bereit sind, sie voranzutreiben. Anders ausgedrückt: Indem wir auf radikale Veränderungen setzen, setzen wir auf Zusammenarbeit mit dem Reformflügel der PVAP (ohne diese Partei besitzen die anderen Teilnehmer dieser Koalition keine praktische Bedeutung). Ich stelle damit fest, daß in der PVAP wie auch in den Kommunistischen Parteien der UdSSR und Ungarns solche Gruppen existieren.
Schon seit langem dauert der Verfall des kommunistischen Totalitarismus an - diese Tatsache wird auch von einem nicht geringen Teil der Machtelite in verschiedenen Ländern des Lagers begriffen, wobei nach Hilfsmitteln in den Veränderungen in Richtung auf Markt und Demokratie gesucht wird. Von den Druckmitteln der Gesellschaft, die nach Demokratie, Markt und einer Reform der Besitzverhältnisse verlangt, und auch von der Offenheit für ein Bündnis mit den Reformgruppen im Staatsapparat hängt die Kraft dieser Gruppen und ihr Einfluß ab und die Antwort auf die Frage, ein wie großer Teil des Apparates sein Schicksal mit den Reformen zu verbinden bereit ist.
Die Versuche, das System der UdSSR zu reformieren, haben Bewegungen auf den Plan gerufen, die wiederum die Reformer in der Führung antreiben und radikalisieren. Das Tempo der Veränderungen in der Sowjetunion übt reformatorischen Druck auf die Machtelite in Polen und Ungarn und anderen Ländern des Lagers aus. Der friedliche Verlauf der Veränderungen und ihr Erfolg beim Lösen der gesellschaftlichen Probleme in Polen und Ungarn sind ein wichtiger Faktor, der die Reformen in der UdSSR stärken können. Umgekehrt können sämtliche Schwierigkeiten dieses Prozesses bei uns und besonders sein eventuelles Zusammenbrechen die Veränderungen in der UdSSR bremsen.
Die innere Ursache für einen Zusammenbruch kann, von einem Ausbruch gesellschaftlicher Unzufriedenheit hervorgerufen, durch die wirtschaftliche Situation herrühren. Das ist zur Zeit sehr wahrscheinlich, es ist zu einer Zusammenballung von Problemen, die sich in 40 Jahren Existenz dieses Systems angehäuft haben, gekommen. Abgenutzte Maschinen und Einrichtungen, Gebäude, verunreinigte Luft und verschmutzes Wasser, sich entvölkernde Dörfer und zugleich der Mangel an Perspektiven, Unsicherheit über das Morgen, Schwäche der Staatsmacht und eine kranke Preisstruktur, die alle zusammen zu einem Absinken der Industrie und Agrarproduktion geführt haben. Zugleich steigt die gesellschaftliche Ungeduld und die Ansprüche, hervorgerufen durch die Liberalisierung und den Fortschritt bei der Demokratisierung.
Ohne Rücksicht auf die angenommene Strategie der Deregulierung der Wirtschaft (entweder schnell und in einem Schritt oder langsam in Etappen) ist in kurzer Zeit ein starkes Ansteigen der Lebensmittelpreise unvermeidlich. Diese Erhöhung wird voraussichtlich Massenstreiks und Demonstrationen hervorrufen, in deren Folge der Reformprozeß in unserem Land zerbrechen kann.
Der Aufbau eines neuen Wirtschaftssystems verlangt Zeit und Kapital - wir haben beides nicht. Je mehr Kapital, desto schneller kann man das neue System aufbauen. Kapitalhilfe aus dem Westen ist möglich, und wird um so höher sein und um so schneller kommen, je größer das Vertrauen des Westens in die polnische Regierung sein wird, daß diese das Umbauprogramm in Angriff nimmt.
Aus den angeführten Punkten läßt sich schließen, daß eine Regierung unter Dominanz des parlamentarischen Bürgerklubs gebildet werden muß, was nicht heißen muß, daß der aus Abgeordneten und Senatoren bestehen muß (eine Regierung des nationalen Vertrauens). Gegen diese Lösung werden verschiedene Argumente angeführt:
a) Das Risiko einer völligen Kompromittierung im Falle eines Mißlingens.
b) Mangel auf Oppositionsseite an entsprechenden qualifizierten Kandidaten für Premier und Minister.
c) Ein unausweichlicher Konflikt der neuen Regierung mit der Nomenklatura und dem gesamten Staatsapparat, der einen schnellen Kaderwechsel notwendig macht, worauf wir nicht vorbereitet sind.
d) Unser Staat ist Mitglied des Warschauer Pakts und des RGW. Ein großer Teil des Machtapparates befindet sich in der Hand der PVAP und ihrer Wojewodschaftskomitees, besonders die Armee, die Geheimpolizei und das Fernsehen. Die neue Regierung kann somit zu Beginn völlig paralysiert werden.
Ohne zu bestreiten, daß diese Argumente zutreffen, muß man sich darüber im Klaren sein, daß wir nicht wählen können zwischen einer guten und schlechten Lösung, sondern nur zwischen einer schlechten und einer noch schlechteren. Wenn die Alternative zu einer von uns gebildeten Regierung den Ausbruch gesellschaftlicher Wut bedeutet und damit den Zusammenbruch der Reform, ist trotz allem, was dagegen spricht, die Übernahme dieser Verantwortung unsere Pflicht. Dieser Ausbruch ist natürlich nicht sicher, aber höchst wahrscheinlich. Hinzu kommt, daß kein Gegenargument unumstritten ist: Was die mögliche Kompromittierung angeht auch wenn wir die Regierung nicht übernehmen, werden sich die Lebensbedingungen verschlechtern und sogar möglicherweise der Reformprozeß zusammenbrechen und uns das trotzdem kompromittieren. Was den angeblichen Mangel an Leuten angeht, so müssen wir ja nicht nur konzessionierte Oppositionelle nehmen, vertrauenswürdige Fachleute gibt es in unserem Land genug. Was den Konflikt mit der Nomenklatura angeht, so kommt jede Regierung, die für radikale Veränderungen eintritt, damit in Konflikt und eine andere Regierung landet eh in der Katastrophe. Die Nomenklatura in der Wirtschaft, im Gesundheitswesen und der Erziehung muß sofort abgeschafft werden.
Was das Argument angeht, daß wir in einem uns fremden System agieren (das wir durch unsere Zusammenarbeit mit den Reformen abschaffen wollen), eine Regierung, wie wir sie befürworten, kann ohnehin nur entstehen, wenn diese Reformer verstehen, daß es auch in ihrem Interesse liegt. Wir müssen zusammenarbeiten mit dem aus der PVAP kommenden Präsidenten, zu dem die Partei und besonders Militär und Polizei Vertrauen haben. In der Regierung müssen Verteidigungs-, Innen- und vielleicht auch Außenministerium von der PVAP besetzt werden.
Man muß damit rechnen, daß eine Regierung der PVAP -Koalition mehr oder weniger kompetent in mehr oder weniger neuer Zusammensetzung berufen wird. Wenn jedoch die Politik dieser Mannschaft in einigen Wochen auf den entscheidenden Widerstand der Bevölkerung trifft, wird man unser Angebot kaum ablehnen können. Dann allerdings wären wir in einer viel schlechteren Lage.
Wir müssen folglich von zwei grundsätzlichen Varianten einer weiteren Entwicklung ausgehen: einer nationalen Regierung des Vertrauens erster oder zweiter Fassung oder einer Koalitionsregierung der PVAP mit ihren Verbündeten, die unter Druck von unserer Seite steht und eine erfolgreiche Reformpolitik einige Monate lang durchführt. Das verlangt jedoch, daß deren Programm mit uns abgestimmt ist. Wir müssen also in Betracht ziehen, daß die PVAP, verlangt sie von uns Unterstützung, zu weitgehenden Zugeständnissen bereit sein wird. Wir werden eine Unterstützung nicht ablehnen können, wenn unsere Programm -Punkte angenommen werden und wir die Regierungsbildung ablehnen.
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