peter ahrens über Provinz: Den Ungewöhnlichen ein Zuhause
Paderborn ist alles andere als komisch, manche halten es sogar für die Hölle. Zum Glück lebt Erwin Grosche noch hier
Als in meinem Fernsehapparat vor Tagen ein blond belockter ältlicher Mann zwischen Werbeeinblendungen Alain Delon die Hand küsste, fühlte ich mich an meine Kindheit erinnert. An die freudlosen TV-Abende bei Großmutter auf dem Sofa, wenn Hans Rosenthal Luftsprünge vollführte, Eberhard Gläser die Glocke betätigte und Walter Sparbier mit ersterbender Stimme verkündete: „Die Gewinne verteilen sich wie folgt: 750-mal 100 Mark, 350-mal 500 Mark.“ Während auf dem Bildschirm ein Herr, der stets nur Oskar gerufen wurde, eine gewohnt schlechte Prominenten-Karikatur anfertigte und ein Männlein namens Horst Pillau mitteilte, dass in dem folgenden Theaterstück zehn Fehler eingebaut sein würden, wurden wir auf dem Sofa genötigt, alte, vertrocknete Kekse, die seit Monaten in einer dunklen Kommode lagerten, in uns hineinzustopfen: „Jungs, ihr müsst essen!“ Es waren halt die wilden 70er-Jahre in Paderborn.
Einer, der ebendort gar schon die gewiss noch traurigeren 60er-Jahre durchlebte und es bis heute in dieser Stadt aushält, ist Erwin Grosche. Der Mann, der es stets über sich ergehen lassen muss, dass Feuilletonisten-Darsteller in Zeitungen mit Vorliebe über seine Kulleraugen räsonnieren, hat jetzt ein Buch geschrieben – mit dem wunderbaren Titel: „Lob der Provinz“. Ein Buch, das selbst genug Lob verdient. Denn wenn man sich einmal durch die Plattitüden des Klappentextes geschlagen hat wie weiland Indiana Jones durch den Dschungel, wartet belohnend Erhellendes. In eben jenem Klappentext wird das breitgelatschte Zitat vom „ungewöhnlichsten Kabarettisten Deutschlands“ einmal mehr feilgeboten. Ein Wort, das in Zusammenhang mit Grosche fast so durchgetreten ist wie die Bezeichnung „Kultclub“ beim FC St. Pauli.
Danach wird in bekannter Manier drauflos geschurigelt, Grosches Heimat Paderborn sei „eine Stadt, in der gerade die Ungewöhnlichen ein Zuhause gefunden haben“. Also, das stimmt nun wahrhaft nicht: Und es wird auch nicht wahrer dadurch, dass in Berlin oder München oder sonstwo irgendwelche Klappentext-Autoren hocken, die beim Stichwort Paderborn aufmerken und denken: „Huhu, Paderborn. Daher kommt doch auch dieser Rüdiger Hoffmann, der ist doch so langsam und so witzig. Das muss ja eine komische Stadt sein.“
Allen Klappentext-Autoren der Republik sei versichert: ist es nicht. Es sei denn, man betrachtet es als ungewöhnlich, dass der frühere Paderborner Stadtdirektor zuvor als Beamter in der Nazizeit die Judendeportationen aus Westfalen mitorganisiert hat. Als der städtische Archivar dies in den 60er-Jahren herausgefunden hatte, wollte der Stadtdirektor ihn in die Psychiatrie einweisen lassen. Was seiner Ehrung als verdientes Parteimitglied der Paderborner CDU alles nicht schadete. Ganz normal. Oder soll es etwa ungewöhnlich sein, dass die Hauptstraße in der Innenstadt keine Busspur erhielt, weil dadurch der Parkplatz des Chefredakteurs der allgegenwärtigen Heimatzeitung weggefallen wäre? Wirklich nicht. Schwamm drüber denn auch, dass mit dem überaus peinlichen Schlusssatz „Wir erkennen: Paderborn ist überall“ genau der These von der skurrilen Ungewöhnlichkeit knapp vier Zeilen weiter oben widersprochen wird.
All dies sollte man Erwin Grosche nicht übel nehmen. Denn auf den dann folgenden 220 Seiten des Buches finden sich die Perlen seines Bühnenschaffens, also die Verfluchung einer Einkommensteuererklärung und die Trauerrede auf eine Fruchtsaftsorte. In seinem Text zur Einführung weist er zudem leidgeprüft darauf hin, dass jedes Mal, wenn er bekennt, Paderborner zu sein, irgendwer aufsteht und sagt: Ach, Paderborn, „das ist doch die Hölle“. Und natürlich haben all diese Leute Recht. Doch Grosche braucht keine zwei Seiten, um glaubhaft darzulegen, dass es auch nicht viel schöner ist, aus Kassel, Landshut oder Ludwigshafen zu kommen. Denn das ist ja die Hölle. Und rote Socken in einer Waschmaschine für Weißwäsche und ein Freibad ohne Toiletten und ein sattes Kind füttern zu müssen und „Don’t cry for me Argentina“, gespielt auf einer Panflöte, und einem Freund bei einem Umzug helfen zu müssen, der als Hobby Waschmaschinen sammelt – das ist auch alles die Hölle, und von daher ist es vergleichsweise gar nicht so furchtbar, in Paderborn zu leben.
Außerdem muss man Erwin Grosche in der Ära der Zeitungskrise quasi pflichtgemäß für den einen Satz lieben, den er beiläufig dahingeschrieben hat, als er den unglücklichen Ausgang eines Rendezvous schildert: „Ich habe dann aus Groll die ganze taz durchgelesen und war davon so durcheinander, dass ich sie schließlich abonniert habe.“
Fragen zur Provinz?kolumne@taz.de
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