: Demos nach dem August-Muster
In Moskau demonstrieren alte Kräfte gegen Jelzin-Regierung/ Anhänger des Präsidenten schützen das „Weiße Haus“ vor der „rotbraunen Brut“/ Patriotische Bewegung Rußlands gegründet ■ Aus Moskau K. H. Donath
„Es sind genügend gekommen, Kinder“, lacht die Frau ins Telefon vor dem russischen Regierungsgebäude — so, als hätte sie ihre Zweifel gehabt und wäre jetzt erleichtert. Aus ihrem Einkaufsbeutel lugt eine verpackte Torte heraus. Die Fahrt in die Stadt zur symbolischen Verteidigung des „Weißen Hauses“ hat sie für einige Besorgungen genutzt. Am 19. August, dem Tag des Putsches gegen Gorbatschow, waren die Frauen eindeutig in der Mehrheit. An diesem Wochenende haben viele ihre Männer mitgebracht. Es ist ja auch weniger gefährlich.
In Moskau finden an diesem Sonntag zwei Demonstrationen statt, die sich streng an den „Aufmarschplan“ des Putsches halten. Auf dem Manegeplatz vor dem Kreml versammeln sich etwa 30.000 Menschen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Jelzin-Regierung zu stürzen. Drei Kilometer Luftlinie weiter finden sich diejenigen ein, die der neuen Regierung noch nicht ganz überdrüssig ist. Sie sind einige Tausend mehr. Die Lage hat sich im letzten halben Jahr ausdifferenziert. Auch die Veranstalter der „Menschenkette“ um das Regierungsgebäude stimmen nicht nur Lobeshymnen an. Sie fordern vor allen Dingen eine zügigere Umsetzung der Reformen und Korrekturen bereits sichtbarer Fehler. Dabei geht es vor allem um den Schutz sozial Schwächergestellter, die von den Preiserhöhungen am härtesten getroffen wurden. „Wappnet Euch mit Geduld und stört nicht die Regierung Jelzin und Gaidar“, steht auf einem unschön gekritzelten Plakat.
Nicht stören! Daran halten sich auch die Mitglieder Jelzins eigener Regierungsmannschaft. Voran marschiert Vizepremier und Kampfflieger Alexander Rutskoi. Am Wochenende war er der Starredner auf dem Eröffnungskongreß der „Bürgerpatrioten“. Einer Vereinigung, die sich selbst im Mitte-rechts-Spektrum verortet. Frustrierte und deklassierte Akademiker versuchen, ihr einen ernsthaften Anstrich zu geben. Letztlich ist sie aber dem alten totalitären Moment verpflichtet. Nur hat sich die Ideologie ein wenig verschoben, vom Kommunismus zum Nationalismus. Motto des Kongresses: „Wie ist Rußland zu retten?“
Rutskoi hat beste Kontakte zum militärisch-industriellen Komplex. Ihn sollte er ursprünglich auf Jelzins Seite ziehen. Heute ist er sein Faustpfand. „Rücktritt, Rücktritt“, fordert die Menge, auch Parlamentspräsident Chasbulatow, der den Obersten Sowjet gegen Jelzin aufstachelt, soll gehen: „Rücktritt, Rücktritt.“ Doch das verhallt schnell, die Menge ist nicht fanatisch.
In der Nähe des Manegeplatzes, wo die Regierungsgegner demonstrieren, schallt einem der Ruf „Naschij, naschij“ entgegen. Ein russischer Bariton beschwört den Ausverkauf der Heimat durch die Riege „Gorbatschow-Jelzin-Bush.“ Ihm assistiert ein Transparent: „Lakaien Bushs vor Gericht.“ „Naschij“, das sind die „unseren“. Seit dem Massaker in Litauen 1991 werden damit die Truppen des Innenministeriums in den ehemaligen Republiken bezeichnet. Es wurde zum Kampfruf der russischnationalen Rechtsausleger. Die Leute schauen finster und verhärmt drein. Vornehmlich ältere Menschen über 50 stehen hier. Viele von ihnen verbreiten Material kommunistischer Splittergruppen. Ihre Gesichter zeigen, daß sie noch nie die Sonnenseite gesehen haben. Und zwischendrin überall antisemitische Schmierblätter. Ein Redner der „Russisch Kommunistischen Arbeiterpartei“ kündigt für die nächste Demonstration eine Erfolgsmeldung an: „In allen großen Städten und Bezirken werden wir unsere Partei gegründet haben.“ Die RKAP zeichnet als Hauptveranstalter.
Die Frau mit der Torte hätte nicht besorgt sein brauchen. Noch stützen über 50 Prozent die Politik Jelzins. Das ergab eine Meinungsumfrage des russischen Fernsehens. Nur wenige waren bereit, für die alten Ideale auf die Straße zu gehen. Die Zeiten können sich allerdings schlagartig ändern, zumal der Präsident Anstalten macht, den heimischen Problemen zu entfliehen und auf dem internationalen Parkett zu brillieren. Wie sein Zwillingsbruder Gorbatschow dazumal.
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