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„Demos gegen AKWs sind dummes Zeug“

In den russischen Medien tauchte der Reaktorunfall bei St. Petersburg lediglich als Kurzmeldung auf  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

In einem spontanen Massenauflauf drängten gestern 250.000 Moskauer durch die Straßen der russischen Hauptstadt. Da die Polizei nicht auf diese Ad-hoc-Reaktion der Bevölkerung vorbereitet war, kam überall der Verkehr zum Erliegen. Vor den Bahnhöfen bildeten sich Menschenschlangen, die nach Fahrkarten in den Süden Rußlands anstanden. Viele der entsetzten Demonstranten hatten sich in Bettlaken geschlagen und ihre Gesichter mit weißer Farbe getüncht. Der schwarze Block, die „Gesellschaft der Freunde Bakunins“, drohte auf Plakaten, eigenhändig die Reaktoren abzustellen.

Wir schreiben das Jahr 2015, in Rußland hat sich der vierte Reaktorunfall ereignet. 30 Jahre liegt die erste bekanntgewordene Tragödie von Tschernobyl zurück. Doch noch immer arbeiten die störanfälligen Reaktoren. Die russische Regierung will wegen wirtschaftlicher „Prioritäten“ nicht auf die tödliche Energie verzichten.

Zugegeben, ein übles Szenario. Doch der erneute Vorfall im Atomkraftwerk in Sosnowij Bor zeigt, daß es nicht aus der Luft gegriffen ist. Ein Bewußtsein für die Gefahren der Atomenergie ist in den GUS-Staaten, mit Ausnahme der Ukraine und Weißrußlands, allenfalls in Ansätzen vorhanden. Ein Beweis dafür ist die Berichterstattung der Massenmedien: Der Unfall bei St. Petersburg tauchte nur als Kurzmeldung auf. Die Fernsehnachrichten hatten nach dem „schweren Zwischenfall“ nicht einmal ein Team vor Ort.

Wladimir Gubrenko, Mitglied der Moskauer Grünen, hat dafür mehrere Erklärungen. Zunächst gibt es keine ökologische Organisation, die flächenübergreifend arbeitet. Die meisten Gruppen sind nur in ihrem Gebiet tätig. Den Zenit öffentlicher Aufmerksamkeit haben diese schon in den Jahren 89 und 90 überschritten. Bei den ersten freien Wahlen zu den Parlamenten gelangten zwar Kandidaten mit ökologischen Themen in die Sowjets. Mittlerweile sitzen sie allerdings selbst in Verwaltungen und haben „Wichtigeres“ zu tun. „Ökologie rangiert ganz unten auf der Skala“, meint Gubrenko. Eine wirkliche Bewegung sei nie entstanden und heute angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Probleme unwahrscheinlicher denn je. Dementsprechend auch die Reaktionen in Moskaus Straßen. Valerij Aljoschin, ein 28jähriger Ingenieur, findet die Grünen zwar „gut“, hat aber keine Zeit, sich zu engagieren. Zu einer Demo gehen? „Ach, das ist doch dummes Zeug“, meint er kurz. Die meisten reagieren so, ein Großteil der Befragten hat den Vorfall nicht einmal registriert. Lediglich die 22jährige Lehrerin Swetlana Pawlowa und die Schülerin Julia „haben Angst“. Sie würden sich an einer Demonstration beteiligen. Doch Demos finden nicht statt. Wütend äußert sich die 53jährige Arbeiterin Rima Tschetschina: Sie traue diesem ganzen Pack nicht, sagt sie voller Grimm, „nur Newsorow“. Dahinter verbirgt sich ein Petersburger Journalist, Chauvinist und KGB- Mitarbeiter, der in seiner allabendlichen Sendung „600 Sekunden“ die Verbrechen des Tages „aufarbeitet“. Er hatte berichtet, daß die nächste Feuerwehrzentrale 50 Kilometer von Sosnowij Bor entfernt liegt.

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