: Demonstrativer Rücktritt
■ Schewardnadse sieht durch die Präsidialdiktatur die Perestroika gescheitert KOMMENTARE
Auch wenn Gorbatschow den Rücktritt von Eduard Schewardnadse noch nicht angenommen hat, so ist der Bruch zwischen den beiden Politikern doch manifest geworden. Der Außenminister hatte in den letzten Monaten Angriffe von verschiedenen Seiten zu ertragen, vor allem aber von den, wie er selbst sagt, „reaktionären Kräften“ im Apparat der zentralen Institutionen der Sowjetunion. Ein Teil derjenigen, deren Existenz selbst von der Weltmachtrolle der SU abhängt, sei es in den Apparaten des Außenministeriums, der Armee oder der Geheimdienste, haben dem Georgier Schewardnadse die Öffnung der Mauer und die damit verbundenen Folgen des Machtverlusts im gesamten ehemaligen Ostblock niemals verziehen. Diejenigen, die damals vollendete Tatsachen nur noch akzeptieren konnten, mußten fassungslos dem Verfall der Sowjetunion zusehen. Wenn Schewardnadse sich jetzt über Verleumdungen in bezug auf seine Politik in der Golfregion beklagt, dann muß gesehen werden, daß die Kritik an ihm im Kern auf viel Grundsätzlicheres zielte: den Zerfall der Weltmacht. Nur solange Gorbatschow zu ihm stand, konnte Schewardnadse sich gegen seine konservativen Kritiker erfolgreich wehren.
Doch diese Unterstützung durch den Präsidenten ist in den letzten Wochen immer geringer geworden. Auch wenn die Argumentation Schewardnadses nach außen hin weiter durch Sympathie für Gorbatschows Kurs geprägt ist: am Sinn der angestrebten Machtkonzentration auf den Präsidenten hat er schon länger gezweifelt. Schewardnadse hat in seiner Rücktrittsrede den Widerspruch benannt, der von Anbeginn im Prozeß der Perestroika als „Reform von oben“ lag: einerseits soll sie strukturelle Veränderung sein und die Demokratisierung der Gesellschaft herbeiführen, andererseits wurde Schritt für Schritt eine Präsidialdiktatur entwickelt, die dem Diktator „mehr Macht als Stalin“ gibt (Jelzin). Schewardnadse fragt, was passiert, wenn ein anderer als Gorbatschow Präsident wird? Es klingen bei ihm sogar Zweifel an, ob Gorbatschow der „gute“ Diktator sein kann, für den ihn viele Menschen in aller Welt noch halten. Gerade dies hatte Andrej Sacharow kurz vor seinem Tode in Abrede gestellt. Sacharow hat wohl recht behalten.
Die institutionellen Voraussetzungen für die Verkehrung der Perestroika in ihr Gegenteil sollen jetzt vom Volkskongreß geschaffen werden. Schewardnadses Rücktritt ist ein dramatischer Versuch, die Weichen in der Sowjetunion in Richtung auf eine Demokratisierung des Staates zu stellen — anders als Gorbatschow es jetzt will. Weil Schewardnadse aber nicht erwarten kann, daß die Mehrheit der Deputierten, die noch in einem demokratisch zweifelhaften Prozeß ausgewählt wurden, seine Befürchtungen teilt, hat sein Rücktritt auch demonstrativen Charakter. Er hat sich offengehalten, von den demokratischen Kräften in der Sowjetunion wieder aufs Schild gehoben zu werden. Erich Rathfelder
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