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Demokratische Visionen? Fehlanzeige im WahlkampfHer mit den Utopien

Globetrotter

von Elise Graton

Ich darf nicht wählen.“ Mit diesem knappen Satz lassen sich verlässlich die vielen Freiwilligen abwimmeln, die derzeit an Straßenecken Flugblätter verteilen. Der Spruch ist so erfolgreich, dass er ihnen augenblicklich das Lächeln ausknipst, das sie bei ihrer bemüht sympathischen Ansprache im Gesicht kleben hatten – parteiübergreifend.

Seit ich in Deutschland wohne, kann ich die Wirkkraft jener Wortfolge alle vier Jahre aufs Neue testen. Nur einmal entgegnete darauf jemand freundlich: „Verstehe, Einbürgerungstest gefällig?“ Da staunte ich nicht schlecht: „Den ganzen Test?“ Der beträgt 310 Fragen und meine Verabredung wartete gerade einen Block weiter im Café. „Nur ein kleiner Auszug“, sagte der nette Mann. Erfreut, überhaupt als mögliches Mitglied dieser Gesellschaft wahrgenommen zu werden, willigte ich ein. Mein Ergebnis: Alles richtig! Dafür gab es sogar ein kleines Geschenk: eine Plastikdose mit Pflaster drin. Warum auch immer.

Trotzdem darf ich noch immer nicht wählen, denn ich besitze keinen deutschen Pass. Dieses Jahr hätte es mich allerdings kaum gewundert, wenn die Freiwilligen versucht hätten, ins Gespräch zu kommen: „Okay, wen würden Sie denn wählen wollen, wenn Sie dürften?“, nur um mich dann zu bekehren, so das Kalkül, damit ich daraufhin die frohe Botschaft an meine wahlfähigen Freunde mit deutschem Pass weitertrage. Aber die haben alle ihre Wahl längst getroffen.

Wie schon zuletzt bei den französischen Präsidentschaftswahlen, so erzählt auch hierzulande plötzlich jeder jedem ungefragt, wen er wählen wird, zur Not via Twitter und Facebook. „Bei euch auch?“, fragte mich meine Oma am Telefon. „Seit wann ist das keine Privatsache mehr?“ Als der zigste Nachbar sie mit der Frage überrumpelte: „Na, wen werden Sie wählen?“, antwortete sie genervt: „Front National!“ Dass er es ihr glaubte, nimmt sie ihm immer noch übel. Aber auch sie bemerkte, wie in Frankreich ein massiver Virus um sich griff und alle mit rechtsextremer Gesinnung infizierte. Plötzlich hatte jeder einen Nachbarn, der einen Nachbarn hatte, der mutiert war.

Auch im Nachbarland Deutschland war zu der Zeit die Nervosität deutlich zu spüren. Über die Anteilnahme habe ich mich damals sehr gefreut. Es fühlte sich europäisch an. Nun muss ich gestehen: In Frankreich interessiert sich gerade keine Sau für die deutschen Wahlen. Die Medien machen zwar ihren Job, aber vergleichbar eifrig wird das Thema nicht verfolgt. Kürzlich zu Besuch in der Heimat musste ich sogar aktiv nachbohren: „Hat denn keiner Fragen?!“ Aus der Runde folgte nur eine äußerst trocken formulierte Feststellung: „Es wird doch sowieso wieder Merkel.“

Meine Landsleute scheinen genauso gelangweilt wie meine Wahllandsleute. Bei den ersten ist – trotz kurzer Panik – wieder alles beim Alten, und auch hier kann kaum von Aufbruch oder Wahleuphorie die Rede sein. Dort wie hier scheint es an Parteien und Programmen zu mangeln, die Visionen im Sinne eines demokratischen Fortschritts erkennen lassen.

Dabei gäbe es doch schlaue Denkanstöße, die das Thema anpacken und sogar Anklang finden. Da wäre der Essay „Utopien für Realisten“ des niederländischen Historikers Rutger Bregman, der die Öffnung der Grenzen, die 15-stündige Arbeitswoche und das Grundeinkommen verhandelt. Er schaffte es zum Bestseller und wird derzeit in 17 Sprachen übersetzt. Auch die deutsche Soziologin Ulrike Guérot, die in ihren Büchern unablässig die Idee einer europäischen Republik mit europäischem Wahlrecht und Arbeitslosenversicherung verteidigt, wird international eingeladen, um ihre Ideen vorzustellen. Und in Frankreich empfahlen mir etliche FreundInnen den Roman „Voyage en misarchie. Essai pour tout reconstruire“ (Reise nach Misarchie. Essay, um alles neu zu erschaffen) des Juristen Emmanuel Dockès. Darin imaginiert er ein Land, in dem Macht und Herrschaft auf ein Minimum reduziert sind, und bei der Gelegenheit beweist er auch, dass die autoritären und wirtschaftsliberalen Auswüchse unserer Zeit keine Fatalitäten sind. Glaubhafte Utopien finde man bei ihm, versichern mir meine Freunde – und trotz des Ernstes der Lage sei das Buch sehr witzig. Mit Utopien gewinnt man keine Wahlen, wird manch ein Realist entgegnen. Aber es wäre langsam Zeit.

Elise Graton ist Autorin und Übersetzerin und lebt in Berlin

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