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Demokratische Sturzflut im Armenhaus Haiti

Der radikale Priester Jean-Bertrand Aristide hat in Haiti die Präsidentschaftswahl haushoch gewonnen/ USA erkennen seinen Wahlsieg an/ Freudenfeste in den Armenvierteln der Städte/ Die geschlagenen Duvalieristen sind bitterböse  ■ Von Aus Port-au-Prince Ralf Leonhard

Der überwältigende Sieg des Armenpriesters Jean-Bertrand Aristide bei den Wahlen am Sonntag in Haiti wurde vom Volk lautstark gefeiert, lange bevor der Provisorische Wahlrat die ersten Teilergebnisse bekanntgab. Die Straßen von Port-au- Prince, Cap Haitien, Jeremie und anderen Städten verwandelten sich am Montag in Schauplätze ausgelassener Tänze. Die Menschen tanzten auf den Straßen, fielen einander um den Hals und schwenkten die blau-roten Fähnchen mit dem Porträt des Volkslieblings „Titid“, Jean-Bertrand Aristide. Ein blutiger Zwischenfall im Vorort Delmas, wo ein nervöser Polizist eine Frau erschoß, blieb die Ausnahme. Die Sturzflut — le lavalas, wie der kreolische Slogan heißt — hat tatsächlich stattgefunden. Am Montag abend wurde bekannt, nach der Stimmauszählung in vier der neun Departements habe Aristide 70,6 Prozent, sein schärfster Rivale Marc Bazin lediglich 12,6 Prozent erhalten. Eine unblutige Revolution im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre kann beginnen.

Während die geschlagenen Kandidaten am Montag gegenüber den Beobachterkommissionen den Triumph Aristides anerkannten und selbst das U.S. State Department dem Wahlsieger gratulierte, bestritten die entmachteten Duvalieristen die Gültigkeit der Wahl. Sie wissen, daß ihrem institutionalisierten System von Korruption und Gewalt die Stunde schlägt. Roger Lafontant, der ehemalige Innenminister Jean- Claude Duvaliers, dessen Kandidatur der Wahlrat zurückgewiesen hatte, war am Montag für die Presse nicht zu sprechen. „Analphabeten sollte man keinen Staatschef wählen lassen“, knurrte Jules Hary, einer der Vertrauensleute des rechtsextremen Politikers: „Aristide dürfte als Priester gar nicht kandidieren. Außerdem ist er Kommunist. Wir werden nicht zulassen, daß er Präsident wird.“ Mit gutem Grund hält sich der zukünftige Staatschef versteckt.

Nach dem eindeutigen Verdikt aller Wahlbeobachter, von den Vereinten Nationen bis zu den Delegierten der Sozialistischen Internationale und dem ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, können auch die widerspenstige Armee oder die korrupten Anhänger der Duvalier-Diktatur nicht an der Glaubwürdigkeit der historischen Wahlen rütteln. Probleme bereitete lediglich das organisatorische Chaos. Der Provisorische Wahlrat und Dutzende Berater der Vereinten Nationen hatten alle Maßnahmen getroffen, um gewalttätige Sabotageakte und Wahlbetrug zu verhindern. Doch sie hatten nicht vorausgesehen, daß der Wahlrat mit der Betreuung von 14.600 Wahltischen überfordert sein würde.

In manchen Wahllokalen wurden Stimmzettel und Urnen so spät angeliefert, daß sich der Wahlrat entschloß, die Wahlzeit bis in die Nachtstunden des Sonntags oder — in einzelnen Lokalen — gar bis Montag vormittag zu verlängern. Daß die Verteilungsprobleme vor allem die Armenviertel von Port-au-Prince, die volkreichen Bidonvilles, betraf, ließ die Sympathisanten von Pater Aristide eine Verschwörung wittern. Die Bewohner von Cité Soleil, des größten Slums der Hauptstadt, begannen sich zu einem Protestmarsch zu sammeln, als gegen Mittag noch immer kein Wahlmaterial eingetroffen war. Sie beruhigten sich erst wieder, als die Lieferung eintraf. Die Leute fühlten sich bereits um ihre historische Chance betrogen, endlich ihr eigenes Schicksal bestimmen zu können. Daß auch die Analphabeten zielsicher von ihrem Recht Gebrauch zu machen wußten, zeigte sich in der Nacht bei den Auszählungen. Denn eine 90prozentige Mehrheit Aristides war in den Armenvierteln fast die Regel.

Gewaltakte wurden diesmal keine gemeldet. Die Armee hatte Anweisung, in den Kasernen zu bleiben, mit Ausnahme jener Soldaten, die zur Sicherung des Wahlprozesses eingesetzt waren. Selbst in Gemeinden wie Petit Goave, 68 Kilometer westlich von Port-au-Prince, wo der Lokalmatador Hubert de Ronceray bei den geschobenen Wahlen von 1988 noch massiv Stimmen gekauft und bereits gefüllte Urnen vorbereitet hatte, verlief die Stimmabgabe in äußerster Ruhe. „Aristide gewinnt“, versicherte eine lachende Zwanzigjährige, die zum Zeichen des Triumphs ihren violetten Zeigefinger in die Luft reckte. Mit der unabwaschbaren Tinte sollte mehrfacher Abstimmung vorgebeugt werden.

Die wirklichen Probleme zeigten sich erst nach der Schließung der Wahllokale. Vor der Sammelstelle im Stadtzentrum herrschte um 11 Uhr nachts ein unvorstellbares Gedränge. Zertrampelte Kartons gingen nach und nach in Fetzen, ausgefüllte Wahlzettel flogen durch die Luft. Der Möglichkeit der Anfechtung unzähliger Teilergebnisse und auch dem Betrug wurde dadurch Tür und Tor geöffnet. Daß das totale Chaos ausblieb, ist der bewundernswerten Ruhe und Ernsthaftigkeit, mit der die einheimischen Wahlhelfer vorgingen, zu verdanken. Die meist jugendlichen Freiwilligen waren sich der historischen Tragweite ihrer Aufgabe bewußt. Noch weiß zwar keiner genau, wie es jetzt weitergehen soll. Doch eines wissen alle: für Haiti ist eine neue Ära angebrochen.

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