: Demo mobilisierte 1.000 Alte
■ „Pflegeversicherung sofort" / Absicherung des Pflegerisikos unumstritten / ÖTV kritisiert SPD-Modell
“Wir, die ältere Generation dieser Stadt, lassen uns nicht länger vertrösten. Wir wollen eine Pflegeversicherung — sofort!“ rief gestern Harry Brandt, der Vorsitzende der Bremer Seniorenvertretung seinen ZuhörerInnen zu und erhielt viel Beifall dafür. Etwa 1.000 PflegerInnen und ältere Menschen, viele davon im Rollstuhl, waren dem Aufruf der Wohlfahrtsverbände, Altenorganisationen und der ÖTV gefolgt, für die Einführung einer Pflegeversicherung zu demonstrieren. Fast alle Kundgebungsredner sahen die Verantwortung für die oft katastrophale Lage pflegebedürftiger Menschen in der Untätigkeit der Bundesregierung. Lediglich der ÖTV-Vertreter übte auch Kritik an dem von den SPD-regierten Bundesländern vorgelegten Versicherungskonzept.
„Heute kostet die stationäre Pflege zwischen 2.500 und 4.500 Mark monatlich“, sprach Bremens Bürgermeister Klaus Wedemeier zu den demonstrierenden Alten. Wer diese Summe nicht aufbringen könne, müsse sich an das Sozialamt wenden. „Für den Pflegebedürftigen selbst, verbleibt nur noch ein Taschengeld von 150 Mark im Monat. Deshalb haben die Sozialdemokraten ein Konzept für eine gesetzliche Pflegeversicherung als eigenständige Säule der Sozialversicherung vorgelegt“, so Wedemeier.
Wie der neue Vorschlag der SPD-regierten Bundesländer belege, sei es leicht, die bestehende Lücke im Sozialsystem zu schließen, sagte Harry Brandt. Von der Bonner CDU-Regierung hingegen fühlte Brandt sich verschaukelt, weil diese im Gegensatz zu ihren Ankündigungen das Problem bis zum Sommer 1992 vertagt hat.
Als einziger Redner übte nur der Bremer Geschäftsführer der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Holger Aebker, Kritik am SPD-Konzept. Er bemängelte, daß infolge der Beitragsobergrenzen der Sozialversicherung gutverdienende BürgerInnen nicht entsprechend ihrem Einkommen zur Finanzierung der neuen Versicherung herangezogen würden. Außerdem ändere die neue Versicherung nichts an der zu geringen Personalausstattung der Pflegeeinrichtungen.
Eine ÖTV-Betriebsrätin der Bremer Heimstiftung meinte, die Initiative der SPD könne „nur ein kleiner erster Schritt“ sein. Eigentlich müßten alle gemäß ihres Einkommens für die Pflegekosten aufkommen und nicht nur die Versicherungspflichtigen. Im Klartext: Pflegebedürftigkeit soll aus dem Steueraufkommen bezahlt werden.
Noch schärfer war die Kritik außerhalb der Demonstration: Vor der Bürgerschaft hatte die Partei „Die Grauen“ einen Infotisch aufgebaut. „Demnächst gehe ich mit einem Megaphon durch alle Heime“, wetterte der Graue Reinhard Sturm. Sein Argument: Die SPD wolle, daß Pflegebedürftige in Heimen immerhin noch 1.150 Mark selbst bezahlen. Für Kleinrentner ändere sich die Situation deshalb überhaupt nicht. Sie müßten auch weiterhin ihre gesamte Rente an das Sozialamt abtreten und mit einem Taschengeld auskommen. Hannes Koch
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