: Dem Obrigkeitsdenken ein Schnippchen schlagen
■ Volkszählungsboykottbewegung in Berlin / Eine selbstkritische Bilanz
Dem Obrigkeitsdenken ein Schnippchen schlagen
Volkszählungsboykottbewegung in Berlin / Eine
selbstkritische Bilanz
Am kommenden Wochenende will die VoBo-Bewegung zusammen mit Interessierten Bilanz ziehen: „VoBo - eine Bewegung im Aufbruch, Einbruch ... Durchbruch?“ Zwei Mitarbeiter des VIB sind diesen Fragen bereits nachgegangen. Ihr vorläufiges Resümee: VoBo war ein Erfolg mit Einschränkungen. Es fehlte der Schwung von '83, man unterschätzte die Bürokratie und verlegte sich zu sehr auf die Rechtsberatung. Ihr Interesse gilt aber auch der Frage, wie kann aus den Fehlern gelernt werden und wie kann eine breite Bewegung gegen Verplanung und Überwachungsstaat entstehen. Die folgenden, gekürzten Beiträge wurden dem Reader zum VoBo-Forum entnommen, das kommenden Samstag und Sonntag in der Eisenbahnstraße 21 in SO36 stattfindet.
Die Ausgangssituation für die Volkszählung '87 unterschied sich in einigen Punkten von der für '83:
-Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes hatte die Brisanz der Totalerhebung in einem wichtigen Punkt (Melderegisterabgleich) gemildert. Im Volkszählungsgesetz '87 gab es zwar auch einige Verschärfungen, z.B. die Einführung der Blockseite, was aber in der Öffentlichkeit keine größere Beachtung fand.
-Die propagandistische Versicherung, die Volkszählung '87 entspreche in allen Punkten dem relativ bürgerInnenfreundlichen Spruch der Karlsruher Richter, vermochte die Emotionen zu dämpfen. Die Oriententierung am Buchstaben des Urteils bei gleichzeitiger Aushöhlung seiner emanzipatorischen Gehalte war inzwischen zur Richtschnur sicherheitspolitischen Handelns geworden und erschwerte die kritische Position. Es war klar, daß die BetreiberInnen den zweiten Volkszählungsversuch besser vorbereitet hatten und fest entschlossen waren, ihn erfolgreich zu Ende zu führen. Ein leichter Sieg des Boykotz war nicht zu erwarten. (...)
Die VoBo-Bewegung '87 konnte zwar auf den Erfahrungen von '83 aufbauen, war besser geplant und vorbereitet, besaß aber nicht mehr den damaligen enthusiastischen Schwung. (...) In der BRD sind autoritätsfixiertes Denken, Ängste und Respekt vor der Obrigkeit stärker verbreitet als angenommen. Das führte dazu, daß die Hälfte der Leute schon absprang, als die Erinnerungs- und Mahnschreiben eintrafen, die aber überhaupt noch kein Risiko beinhalteten. (...) Dieser Mechanismus setzte sich bei Aufforderungs- und Zwangsgeldbescheiden fort, und die Voraussage der BetreiberInnen, daß sich die Zahl der BoykottuerInnen bei jedem Schritt der Volkszählungsämter halbieren werde, ging in Erfüllung. Die VoBo-Initiativen konnten hier nichts dagegen setzen. Die schrittweise Reduzierung der „Boykottmasse“ wurde als unabänderlich hingenommen, und wir begannen, den Niedergang zu verwalten.
Hier liegt meines Erachtens ein wichtiger Fehler dieser Phase. Wir wollten nicht wahrhaben, daß der Erfolg des staatlichen Zwangsapparates allenfalls eine Frage der Zeit war. Die überwiegende Zahl der BoykotteurInnen war nicht bereit, größere finanzielle Risiken in Kauf zu nehmen, und das war auch berechtigt. Politisch war damit nichts mehr zu erreichen, und die Notwendigkeit eines größeren finanziellen Opfers war nicht ausreichend zu begründen.
Wir waren nicht in der Lage, auf diese Situation eine angemessene Antwort zu finden. Wir kamen nicht mehr aus der Defensive heraus, und die Demoralisierung und Verringerung der Zahl der VoBo-AktivistInnen setzte ein. Eine Alternative wäre der Versuch gewesen, von uns aus einen aktiven Schlußpunkt zu setzen zu einer Zeit, als die Bewegung noch stark war, z.B. durch ein gemeinsames einheitliches Falschausfüllen. Wir klebten zu fest an der einmal gefaßten Linie und waren dadurch gut kalkulierbar. Eine wichtige Stärke gegenüber Bürokratie und Verplanung ist jedoch Phantasie und Spontaneität, wovon allerdings in dieser Phase des Boykotz nicht mehr allzuviel zu spüren war.
Ein Problem in diesem Zusammenhang ist die regionale Ungleichzeitigkeit der Volkszählung und die Zersplitterung der dezentralen VoBo-Bewegung. Durch regelmäßige bundesweite Koordinationstreffen wären wir wahrscheinlich flexibler gewesen. (...)
Eine Neubewertung müßte auch der „weiche“ Boykott erhalten. Zahlenmäßig läßt er sich zwar nicht eindeutig erfassen, aber die bekannt gewordenen Klagen der Statistischen Ämter über die schlechte Qualität der abgegebenen Bögen sprechen Bände. Wenn diese die letzte Volkszählung in der BRD gewesen sein sollte, ist es zum großen Teil auch dem „weichen“ Boykott zuzuschreiben. Auch wenn er für uns propagandistisch nicht zu verwerten ist, weil die StatistikerInnen natürlich abstreiten werden, daß sie damit Schwierigkeiten hatten, erfüllt er doch die Funktion, Sand ins Getriebe zu streuen und die Ergebnisse der Volkszählung unbrauchbar zu machen. Es wäre für die VoBo-Bewegung besser gewesen, mit „harten“ und „weichen“ Boykottformen flexibler umzugehen und nicht die einmal gefundene „richtige“ Strategie des „harten“ Boykotts stur bis zum bitteren Ende durchzuziehen.
(...) Die Vermittlung politischer Zusammenhänge wie zu den „Sicherheits„-Gesetzen, die von uns als wichtige Aufgabe angesehen wurde, und die im Vorfeld auch ansatzweise gelang, trat allmählich völlig zurück. VoBo entwickelte sich zu einer Rechtshilfebewegung. Die politischen Inhalte gingen zunehmend verloren, für öffentlichkeitswirksame Aktionen war keine ausreichende Kraft mehr vorhanden. In diesem Sinne hatte die massenhafte Propagierung des Rechtswegs eine entpolitisierende Funktion. Im Gegensatz dazu wäre es wichtig gewesen, sich rechtzeitig Wege aus der immer tieferen Verstrikkung in juristische Händel zu überlegen, um politisch handlungsfähiger zu bleiben. Der Übergang zu Themen wie „Sicherheits„-Gesetzen und Überwachungsstaat ist allerdings auch '83 nicht gelungen, wo uns der juristische Kleinkrieg erspart blieb. Hier fehlt die direkte Betroffenheit, und es ist ungleich schwerer, praktische Handlungsperspektiven aufzuzeigen.
Ein weiterer Nachteil juristischer Schritte ist die damit verbundene Vereinzelung. Jede/r ist mit dem Buß- oder Zwangsgeld allein und muß schauen, wie er/sie mit den GerichtsvollzieherInnen fertig wird. Wir haben hier keine kollektiven Formen entwickeln können, was allerdings auch kaum möglich ist. Bei anderen Aktionen zivilen Ungehorsams, z.B. Blokkaden, ist der kollektive illegale Akt klar begrenzt und überschaubar. Das potentielle Erfolgserlebnis ist direkt mit der Handlung des Ungehorsams verbunden. Beim Volkszählungsboykott sind die Beteiligten einem lang anhaltenden, sich ständig steigernden, motivations- und nervenzermürbenden Prozeß ausgesetzt. Sie haben viel Zeit, sich zu überlegen, ob sie abspringen sollen, erleben das langsame Abbröckeln der Bewegung und geben dann selber irgendwann aus individueller Entscheidung auf. Für eine Bewegung ist es jedoch wichtig, sich in jeder Phase kollektive Handlungsmöglichkeiten zu schaffen. (...)Raimund (V.I.B.)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen