: Decisionismo: Entscheidungen vermeiden
■ Italiens bisherige Koalition richtet sich aufs Weitermachen ein / Ministerpräsident Craxis „Wende“ bestand in der Einführung des Hau–Ruck–Verfahrens / Bürger befürchten staatliche Eingriffe ins Privatleben / Bilanz von vier Jahren sozialistisch geführter Regierung
Aus Rom Werner Raith
Sie habens wahrlich nicht leicht, Italiens Regierungsparteien: Zuerst mußten sie, nach dreieinhalb Jahren relativ stabiler Zusammenarbeit, den Wählern erklären, warum sie von einem Tag zum anderen angeblich überhaupt nicht mehr miteinander können (den dahinterstehenden starken Konflikt der christdemokratisch und republikanisch liierten Schwerindustrie mit der sozialisten–freundlichen High–Tech–Lobby gesteht man lieber nicht ein). Und nun müssen sie, wenige Tage vor der Parlamentswahl am 14. Juni, begründen, warum sie hernach doch wieder miteinander regieren werden. Den Weg zur einzig möglichen Alternative - mit den Kommunisten - haben bereits alle bisherigen Koalitionäre (neben Christdemokraten und Sozialisten, Sozialdemokraten, Republikaner und Liberale) hermetisch zugemauert. So lenken die Fünf, wie bereits in den vergangenen Wochen, am liebsten durch Vorweisen ihrer „Erfolge“ ab - jeder reklamiert möglichst alles für sich, von der reduzierten Inflation (von 16 auf 4 Prozent) über die nun wieder positive Außenhandelsbilanz bis zum Wirtschaftswachstum (von 0,3 auf 3 Prozent), das weltweit den zweiten Rang (noch vor der BRD) einnimmt. Tatsächlich weiß die Führungsriege natürlich, daß ihre „Er–folge“ nur zu einem ganz minimalen Teil ihrer Regierungskunst und hauptsächlich der welt weiten Entwicklung zuzuschreiben sind. „Ihr einziger Verdienst“, resümiert die Zeitschrift LEspresso, „besteht darin, daß sie die Entwicklung (speziell die Umschichtung von der Schwerindustrie zu High Tech) nicht behindert hat.“ Da ist was dran - doch auch die Nichtbehinderung ist keine neue Tugend: Italiens Regierungen haben sich immer am besten in der Rolle des rhetorisch mächtigen, in Taten aber bewußt schwachen Repräsentationsapparats zurechtgefunden. Craxis rhetorische Wende Auch der Sozialist Craxi hat vor allem durch forsche Worte Eindruck gemacht: Gleich zu Beginn seiner Regierungszeit 1983 rief er den „decisionismo“ aus, die „Entschiedenheit“: alles sollte ruckzuck gehen. Im Vorderen Orient sollte ebenso wie gegenüber den Großmächten Spielraum geschaffen, in der EG sollte es zugiger gehen... Die Italiener erfreuten sich an der lange nicht mehr so brillant gehörten Rhetorik. Geglaubt haben sie wohl nichts von alledem. In der Tat machte Craxis „Dezisioniosmus“ zwar viel Wirbel, die anderen Parteien stiegen voll auf den rhetorischen Schlagabtausch ein - doch wirklich geändert hat sich nichts Wesentliches. So konnten die Koalitionäre ohne irgendeine Auswirkung auf die Regierungsarbeit die gesamten dreieinhalb Jahre der Legislatur öffentlich aufeinander eindreschen, konnte die Regierung mühelos über 150 Abstimmungsniederla gen wegstecken - es war schlicht gleichgültig, ob und was wirklich entschieden wurde. Vielleicht war Craxis Regierung gerade deshalb bei den Italienern beliebt: Das Volk mag es, wenn viel geredet, aber möglichst wenig geändert wird; tief sitzt die Angst, daß Änderung nur böse Eingriffe ins Privat– und Geschäftsleben bedeutet. So lassen die Italiener ihren Herrschern gutmütig die Macke, die Regierungsarbeit als „epochal“ und „große Wende“ zu preisen - sie wissen ja, daß das nicht stimmt. In der Tat war selbst Craxis angeblich „entschlossenste Entscheidung“, die Aufhebung der gleitenden Lohnanpassung, nur die Ermordung einer Leiche: Faktisch verzichten die Arbeiter angesichts von drei Millionen Arbeitslosen schon lange auf Tarifzuschläge, und die Angestellten haben sowieso eine durch Prämien etc. gestützte proletarierfeindliche Kleinbürgermentalität entwickelt. Entsprechend ging (mit 55 Prozent Nein–Stimmen) ein vom PCI angestrengtes Referendum zur Rettung der Lohnanpassung baden. Auch die außenpolitische „Entschiedenheit“ Craxis und seiner Partner bestand vorwiegend darin, möglichst viel nicht zu tun: niemanden zu verärgern, im Libyenkonflikt sowohl mit Ghaddafi im Geschäft wie mit den Amerikanern gut Freund zu bleiben, oder im Golfkrieg offiziell den Irak zu unterstützen und heimlich dem Iran Waffen zu liefern. Das alles ist in Italien nichts Neues - neu aber ist die Art, wie es durchgeführt wird. Craxis Stärke war es vor allem, seine Nicht–Entscheidungen in atemberaubender Geschwindigkeit zu treffen: Dazu ließ er die Probleme jeweils möglichst lange verdeckt wachsen, um dann plötzlich dringenden Entscheidungsbedarf zu konstatieren und die Sache per Eildekret und nicht über parlamentarische Auseinandersetzung vom Tisch zu bekommen. So etwa beim Umweltschutz, bei der überlangen U– Haft–Dauer oder bei der Energiefrage. Reine Augenwischerei, denn Dekrete haben eine Geltung von allerhöchstens sechs Monaten - und nur selten werden sie danach (und wenn, stark verwässert) in formelle Gesetze umgewandelt. Streiks aus Mißtrauen Die große Geschwindigkeit nichtsändernder Entscheidungen hat vor allem eine Gruppe überrannt, die in der Regel längere Grübelzeit braucht, ehe sie sich deutlich äußert - die Intellektuellen. Italiens Parlament weist traditionell so viele Professoren und Schauspieler, Künstler und Mediziner auf wie keine andere Volksvertretung der Welt; vor Wahlen versichern sich die Parteien bekannte Namen gern als Zugpferde. Realen Einfluß auf die Regierungsarbeit haben die Intellektuellen dann zwar meist nicht - viele finden sich in ihre Rolle als Aushängeschild hinein oder legen bald ihr Mandat nieder. Doch ein paar von ihnen haben sich auch stets als eine Art Gewissen verstanden, das dem Volk die Schwächen und Lügen der Herrschenden offenbart. Abgeordnete wie die Schriftsteller Natalia Ginzburg und Leonardo Sciascia galten denn auch immer als eine Art Garantie dafür, daß nicht alle Schweinereien unter den Tisch gekehrt wurden. Craxis Schnellschüsse haben mit dieser Funktion aufgeräumt. Ehe die Intellektuellen zu denken begonnen hatten, waren die Probleme längst wieder zu den Akten gelegt. Möglicherweise war die Einführung der Überrumpelung als Regierungsmittel die einzeige wirkliche „Wende“ der Craxi–Ära. Daraus könnte nun ein Bumerang werden. Merkbar gesunken ist die Zahl kandidaturbereiter kritischer Unabhängiger; gleichzeitig erklärt bei Wähler–Umfragen eine wachsende Minderheit von etwa 20 Prozent, daß sie sich „immer weniger aufgeklärt sieht, was wo und wann entschieden wird“ - und daher diesmal nicht zu wählen gedenkt. Damit aber wächst das Unmutspotential im Untergrund - schon zeigen viele wilde Streiks und das Anwachsen gewerkschaftlich nicht mehr beherrschbarer Arbeitervertretungen, daß die traditionelle Kontrolle nicht mehr funktioniert. Egal, ob die Wahlen eine Neuauflage der Fünferkoalition oder eine andere Variation des Parteienpuzzles ergeben: Das Mißtrauen bei den Italienern ist geweckt, die Regierung könne Eingriffe ins Privatleben planen und wird sich in der nächsten Zeit durch weitere präventive Proteste Luft machen.
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