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Debatte unter deutscher Last

■ Thema Israel und besetzte Gebiete gestern im Bundestag / Keine Routinedebatte: Nachdenklichkeit bei allen Parteien / Norbert Gansel (SPD): Kausalkette der Nazis reiche bis heute und weiter / Otto Schily nennt Shultz–Plan als Interims–Lösung praktikabel

Aus Bonn Charlotte Wiedemann Der SPD–Abgeordnete Norbert Gansel verließ das Rednerpult mit Tränen in den Augen, Otto Schily brach seinen Beitrag im ersten Anlauf nach wenigen Sätzen ab, selbst die CSU–Parlamentarierin Michaela Geiger bekannte: „Selten ist es mir so schwer gefallen, die passenden Worte zu finden.“ Die gestrige Bundestagsdebatte über Israel und die besetzten Gebiete brach aus der üblichen parlamentarischen Routine aus, wenn auch die „Salam“– und „Shalom“– Rufe, die nach jeder Rede fielen, in einem weitgehend leeren Plenum verhallten. Die vorherigen Befürchtungen einiger Grüner, daß sich der Bundestag zum Richterforum über Israel oder gar „die Juden“ aufschwingen würden, erfüllten sich nicht. Alle Parteien bemühten sich um Verhaltenheit, beschworen das Existenzrecht Israels in der Formel „der anerkannten und sicheren Grenzen“ sowie das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser. Außenminister Genscher sprach von einer „Bürgererhebung“ in den besetzten Gebieten, die mit den Kommando–Aktionen der PLO „von außen“ nichts „gemein“ habe: „Der Nahostkonflikt ist in eine noch brisantere Phase eingetreten.“Genscher vermied die Nennung der PLO für eine künftige Friedenskonferenz ebenso wie der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Hans Stercken (CDU): „Allen Betroffenen muß die Gelegenheit gegeben werden, für ihr Recht zu plädieren.“ Anders als in den vergangenen Jahrzehnten gebe es heute, so Stercken, „keine ernsthafte aktuelle Bedrohung für die Existenz des Staates Israel“. Über den „Abgrund zwischen den Völkern der Deutschen und der Juden“ seien „instabile Brücken gebaut“ worden - auch Israelis und Araber könnten ihre Feindschaft ähnlich überwinden, meinte Stercken. Norbert Gansel (SPD) beschwor am eindringlichsten, daß „die Kausalkette, die die Nazis in Gang gesetzt hatten, von Polen bis Palästina und von 1933 bis 1988 und weiter“ reiche. Gansel: „Ich kann die Haftung für die Taten der Generation meiner Eltern nicht von mir weisen.“ Die Palästinenser heute als „Opfer der Opfer“ zu bezeichnen, sei eine „unerträgliche Gleichsetzung“ mit Nazi– Deutschland. Fortsetzung Seite 2 Otto Schily, der seine Rede später doch noch hielt, schloß sich Gansel an: „Der geschichtliche Ort, indem diese Debatte stattfindet, bleibt auch im Jahr 1988 Auschwitz.“ Schily plädierte für den „Verzicht auf Maximalforderungen“ beider Seiten, auf das „expansive Ziel eines Groß–Israel“ und den „ebenso expansiven Machtanspruch auf Gesamtpalästina“. Der Shultz–Plan könne als Interims–Lösung hilfreich sein. Schily sagte weiter, die drakonischen Maßnahmen, mit denen Israelis gegen Palästinenser vorgehen, seien nicht vergleichbar mit dem Massenmord der Deutschen an den Juden. Die Grünen setzten ihre Hoffnungen in die israelische Friedensbewegung. Bei den Appellen aller Parteien für Frieden und gegen Gewalt geriet zuweilen aus dem Blick, daß die Palästinenser doch die Hauptleidtragenden sind. So sprach Hildegard Hamm–Brücher (FDP) von der „Eskalation von Gewalt und Gegengewalt“ und betonte, daß es sich nur um Übergriffe „einzelner“ israelischer Soldaten handele. Michaela Geiger (CSU) verglich das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes mit dem „Selbstbestimmungsrecht für unser eigenes deutsches Volk“ und wollte Israel „kein Staatsgebilde in nächster Nähe zumuten“, in dem die PLO „das Sagen hätte“.

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