Debatte ums Bürgergeld: Verschwindende Minderheit
Mit dem Märchen vom faulen Arbeitslosen macht die Union Stimmung gegen das Bürgergeld. Der unfaire Pauschalverdacht trifft Menschen in echter Not.
D as Diskussionspapier zog seine Kreise durch die Medien: Enzo Weber, Wirtschaftsforscher am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg (IAB), hatte analysiert, inwieweit sich das Verhalten von Hartz IV-, beziehungsweise Bürgergeldempfänger:innen änderte, als es weniger Sanktionen gab und die Bedingungen für das Bürgergeld erleichtert und die Sätze angehoben wurden.
Webers Fazit: Als es im Sanktionsmoratorium während der Coronapandemie kaum noch Kürzungen gab und später dann die Bedingungen für das Bürgergeld erleichtert und die Sätze erhöht wurden, nahmen weniger Leistungsempfänger:innen einen Job an. Das Moratorium habe die Jobaufnahmen aus der Grundsicherung „um vier Prozent“ und die nachfolgende Bürgergeldreform habe die Jobaufnahmen „um fast sechs Prozent“ im ersten Jahr gedämpft, heißt es in dem Papier.
Die Botschaft war Wasser auf die Mühlen derjenigen, die das Bürgergeld als zu üppig ausgestattet kritisieren. Auf dieser Kritik baut die Union ihre Vorschläge für strengere Regeln zur Grundsicherung auf. Damit will sie Erhöhungen des Bürgergeldes beschränken, Sanktionen verschärfen und die Selbstbehalte bei Vermögen und die Übernahme realer Wohnkosten für Leistungsempfänger:innen reduzieren.
Das Bürgergeld steht unter Druck. Die Politik schielt dabei auf die wählende Mittelschicht, zumal fast die Hälfte der Leistungsempfänger:innen keine deutsche Staatsangehörigkeit hat und daher gar nicht wählen kann. Es sind die Perspektiven und die Ambivalenz der Mittelschichtmilieus, die über die Armutspolitik entscheiden werden. Das wird man spätestens im Wahlkampf 2025 deutlich sehen.
Niemand ist vor Armut gefeit
Wie stark ist das Identifikationspotential der Mittelschichtmilieus, die Steuern zahlen und Abgaben leisten, mit Lebenslagen von Armut und Abhängigkeit vom Sozialstaat? Das ist die politische Frage, die in Zeiten knapper Haushaltskassen die Zukunft des Sozialstaates bestimmt. Auch als gut verdienender Erwerbstätiger kann man in die Situation kommen, Grundsicherung, beziehungsweise Bürgergeld, beantragen zu müssen.
Deswegen wurden die Bedingungen für den Bezug von Hartz IV in der Pandemie ja auch erleichtert: Damals fanden sich kleine Selbstständige plötzlich in der Situation wieder, dass die Einnahmen ausblieben. Jetzt hat sich der Wind gedreht. Das Narrativ von den „faulen Arbeitslosen“ und der Streit um den teilweise geringen Lohnabstand, der zwischen Familien im Bürgergeldbezug und schlechtverdienenden Dienstleister:innen herrscht, wird wieder zum Thema.
Dabei machen die als arbeitslos Geltenden nur ein Drittel der Leistungsberechtigten im Bürgergeldbezug aus, nämlich 1,6 Millionen. Fehlende Qualifikationen und Sprachprobleme spielen dabei eine große Rolle. 2,2 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte gelten hingegen gar nicht als arbeitslos. Sie sind etwa alleinerziehend, gering verdienend und Aufstocker, sind in Maßnahmen, gesundheitlich angeschlagen oder sie machen eine Weiterbildung.
Fast 2 Millionen der Bürgergeld-Empfänger:innen sind Kinder. Hinzu kommen 1,2 Millionen Bezieher:innen von Grundsicherung im Alter und wegen voller Erwerbsminderung durch eine Behinderung, deren Regelsätze dem Bürgergeld entsprechen. Scheidungen, Insolvenzen, Krankheiten, Behinderungen, Pflegebedürftigkeit im Alter –Schicksalsschläge können dazu führen, dass Menschen abhängig werden vom staatlichen Existenzminimum und dem Inflationsausgleich.
Kein Sozialstaat ohne Vertrauen
Es gibt also ein Solidaritätspotential mit den Armen, das bis in die Mitte der Gesellschaft reicht. Einerseits. Andererseits aber herrscht in den Mittelsschichtmilieus das Misstrauen, dass hier Steuer- und Sozialgelder an Menschen verschleudert werden, die arbeiten könnten, aber das System ausnutzen. Diese Ambivalenz wird von der Politik befeuert. Als Scheinlösung wird das Bild des „faulen Arbeitslosen“ an die Wand gemalt, auch um mögliche Kürzungen zu erleichtern.
Selbst den Ukrainerinnen mit den hohen Belastungen durch Kinderbetreuung, Sprachprobleme und Kriegstraumata wird inzwischen teilweise mangelnde Arbeitsbereitschaft unterstellt, leider. Das heißt nicht, dass marginale Veränderungen beim Bürgergeld nicht möglich sind. So könnte der Selbstbehalt beim Vermögen, wenn jemand einen Erstantrag stellt, etwas abgesenkt werden.
Und ein Mindestmaß an Sanktionen für jegliche fehlende Kooperation sollte möglich bleiben, falls keine gesundheitlichen Probleme vorliegen. Die Studie von Weber zeigte, dass der Anteil der Leute, die sich womöglich nicht wirklich um Jobs bemühen, wenn Sanktionen wegfallen oder die Leistung verbessert wird, im einstelligen Prozentbereich liegt. Wohlgemerkt handelt es sich um den einstelligen Prozentbereich des kleinen Teils der Empfänger:innen, die überhaupt dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.
Wegen der paar Prozent sollte man weiß Gott nicht die Leistungen für Millionen verschlechtern. Regelsätze und Wohnkosten zu beschränken, muss unbedingt vermieden werden. Schon eine nur reduzierte Übernahme der realen Wohnkosten jenseits fiktiver „Angemessenheitsgrenzen“ führt zu verschärften Armutslagen. Fast ein Siebtel der Bürgergeld-Empfänger:innen bezahlt heute schon Anteile der Mieten aus dem Regelsatz für die täglichen Ausgaben, weil die Miete die engen „Angemessenheitsgrenzen“ der Jobcenter übersteigt.
Das ist skandalös. Jede pauschale Verdächtigung und Abspaltung von Grundsicherungsempfänger:innen im öffentlichen Diskurs, durch die sich die Union vielleicht Stimmengewinne von rechts verspricht, wird zudem einen hohen politischen Preis haben: Pauschale Verdächtigungen zerstören das Vertrauen in das Solidarsystem, ein Vertrauen, das sowohl Einzahler:innen als auch Empfänger:innen brauchen. Ohne Vertrauen ist kein Sozialstaat möglich.
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