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Debatte WahltaktikDie Koalitionslotterie

Kommentar von Christian Semler

Die Linke hat sich im Bundestag etabliert. Das Fünf-Parteien-System macht so die funktionierende Wahlarithmetik hinfällig. Mit welchem Kalkül gehe ich nun wählen?

E in alter Freund und gestandener Linker instruiert mich kürzlich wie folgt in Sachen Bundestagswahl: "Du musst unbedingt FPD wählen!" Als ich ungläubig die Augenbrauen hochziehe, präzisiert er: "Die FDP muss man wählen, damit Schwarz-Gelb drankommt. Das gibt der SPD die Chance, sich in der Opposition nach links zu regenerieren, so dass 2013 Rot-Rot-Grün antreten und siegen kann. Rein rechnerisch hat die Linkskoalition ja schon längst die Mehrheit.

DER AUTOR

Christian Semler war in einem anderen Leben Jurist. Seit 1989 ist er Mitarbeiter der taz. Er befasst sich unter anderem mit Fragen der internationalen Sicherheitspolitik.

Zugegeben, ein Spiel über mehrere Banden. Aber selbst ein Einlochen der Billardkugel auf schnurgeradem Weg kann diesmal, bei der Bundestagswahl 2009, leicht daneben gehen. Vorbei die Zeit, wo noch einfache Arithmetik ausreichte, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Bislang galt ja: Zweitstimme für die FDP, um Schwarz-Gelb, Zweitstimme für die Grünen, um Rot-Grün zu bewirken. Aber wie schaffe ich es, innerhalb des Fünf-Parteien-Systems mit meinen beiden Kreuzchen tatsächlich meine politische Option zu befördern? Weil das gar nicht mehr so einfach ist, wird mittlerweile die Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Konstellationen weit intensiver diskutiert als das, worum es eigentlich gehen sollte: der Wettstreit der Programme und der Lösungsvorschläge.

Der Wähler wird statt eines politischen Akteurs zum Wahlanalytiker zweiter Ordnung, der Chancen der verschiedenen Farbkombinationen kalkuliert wie beim Ausfüllen eines Toto-Scheins. Diese Haltung ist so populär geworden, dass Die Zeit, quasi als Handreichung, dem "Wahlomaten" in ihrer letzten Ausgabe einen "Koalomaten" in Form der Wahrscheinlichkeitsberechnung der jeweilig koalierenden Farben zur Seite stellte.

Wahlen sollten eigentlich politische Richtungsentscheidungen ermöglichen. Das Prinzip: Parteien konkurrieren miteinander um die Wählergunst, indem sie auf politisch virulente Fragen unterschiedliche Antworten formulieren. Zwar lässt die Bindungswirkung gerade der "Volksparteien" kontinuierlich nach, aber noch wären sie in der Lage, entscheidenden Einfluß auf die Themensetzung bei Wahlkämpfen zu gewinnen. Immer noch bevorzugen nahezu 70 Prozent der Wähler "ihre" Partei. Diese Präferenz dient als Filter, um die "issues", die politischen Streitthemen, zu bewerten und zu gewichten.

In diesem Wahlkampf 2009 aber haben beide "Volksparteien" einvernehmlich beschlossen, die wichtigsten dieser "issues" nicht zum Gegenstand des Streits zu machen. Zum Beispiel innenpolitisch: Form und Ausmaß des Staatsinterventionismus in der Finanz- und Wirtschaftskrise. Außenpolitisch: die Rolle Deutschlands bei laufenden und künftigen militärischen Interventionen. Die "Volksparteien" fürchten, dass diese Themen als Spaltmaterial in ihrer jeweiligen Anhängerschaft wirken, als "cleavages", die zum Abfall, zum Positionswechsel eines Teils der Anhängerschaft führen können.

Lange Zeit galt es als ausgemacht, dass bei Wahlen in der wohltemperierten, die Gegensätze abflachenden "Mitte" der Wählerschaft die meisten Stimmen zu holen wären. Die Ränder hingegen waren zu vernachlässigen, denn Verluste dort wurden durch Stimmengewinne in der Mitte mehr als ausgeglichen. All das ändert sich in Zeiten tiefer Krise. Das Fünf-Parteien-Spektrum ist deren Resultat.

Gerade die Abwesenheit des politischen Streits bei den "Volksparteien" hat eine starke entpolitisierende Wirkung. Statt thematischer Orientierung wird jetzt das Spiel abstrakter Koalitionskalküle beim Wahlvolk befördert. Aber die Grenzen solcher Kalküle sind schnell benannt - man muss sich nur folgenden Fragen stellen: Kann es sein, dass die Stimmen, die die neoliberale FDP für Schwarz-Gelb einbringt, bei wertkonservativ eingestellten CDU-Wählern wieder verloren gehen?

Befördert die Stimme für die SPD tatsächlich die Wahrscheinlichkeit, dass sie als Juniorpartner in eine neue Große Koalition eintritt? Wie kalkuliert man, ob eine grüne Stimme die Chancen für Schwarz-Grün oder für Jamaika erhöht? Die Wahrscheinlichkeiten, mit denen hier gehandelt wird, beziehen sich sämtlich auf Umfragen, die nur einen Augenblick im Wahlverhalten repräsentieren. Aber bei den Konstellationskalkülen wird jede Zahl hinter dem Komma für eine exakte Aussage genommen. Das Voraussagen-Debakel bei der letzten Bundestagswahl ist offenbar kein als Warnsignal.

Wo die issues fehlen, treten psychologische Aussagen über Kandidaten und über das Wahlverhalten des Publikums an deren Stelle. Solchermaßen ausgegebenen Faustregeln entziehen sich jeder empirischen Nachprüfbarkeit. Ruft beispielsweise die anhaltende Schwäche der SPD bei ihren Anhängern einen Defaitismus-Effekt hervor oder erweckt sie Mitleid mit dem "underdog" Steinmeier? Führt der Vorsprung der CDU zu einem Bandwaggon-Effekt im Sinne von schnell noch aufspringen oder tritt der so genannte Bequemlichkeitseffekt ein, der den CDU-Wähler angesichts des sicheren Sieges zu Hause bleiben lässt?

Nicht mal auf die Regeln des Kalkulations-Spiels ist Verlass. Denn plötzlich zählen in Thüringen die für den SPD-Chef Christoph Matschie abgegebenen Stimmen doppelt so viel wie die für Bodo Ramelow, den Spitzenkandidaten und Wahlsieger der Linken. Matschie will Ramelow in einer von ihm angestrebten rot-roten Koalition partout nicht zum Ministerpräsidenten wählen. So dass eine für die Linken in der Hoffnung auf Rot-Rot abgegebene Stimme zwar rechnerisch zum Erfolg führte, aber dennoch doch vergeblich bleibt.

Sind wir erst am Anfang der Konstellationslotterie? Und wird es immer schwieriger, bei diesem Spiel einzusteigen, so dass künftig Kenntnisse der Spieltheorie ebenso vonnöten sind wie die Handhabung des Theorems der rationalen Wahl, wenn wir mitspielen wollen? Daran sind Zweifel angebracht. Schon um der Selbsterhaltung Willen werden die Volkspartei-Ruinen wieder zum klar konturierten Lagerwahlkampf zurückkehren. Für den Einstieg in Rot-Rot-Grün wird von Gregor Gysi bereits das Jahr 2011 avisiert. Bitte einsteigen, denn bald ist das Konstellationen-Spiel zu Ende.

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4 Kommentare

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  • BG
    Bernd Goldammer

    @Lairdprotector

    Ihnen muss wohl die Galle übergekocht sein. Kann ich denn heute genau den Bundestags- Kandidaten wählen, den ich kenne und für befähigt halte? Listenbonzen entscheiden! Weiß ich heute , was die Partei macht, die ich gewählt habe? Wieviele Abgeordnete sitzen im Bundestag, die ihre Wahlkreise nicht gewonnen haben?

  • TR
    Tabula Rasa

    @ Lairdprotector "schon vergessen"?

     

    LINKE = "Die DDR läßt grüßen" rufen Sie ängstlich ...

    vermutl. weil "der frühere thür. MP Bernhard Vogel (CDU) vor einer Regierungsbeteiligung der Linkspartei in Erfurt warnte. Das Wichtigste [...] sei, dass die Linkspartei von der neuen Regierung ferngehalten werde [...]. Er wolle nicht, "dass Erben der SED an einer neuen Landesregierung beteiligt werden."

     

    Lairdprotector, Sie sind ein polit. Naivling, wo doch Thüringen von der SED-Blockflöte Dieter Althaus regiert wurde, der ein so strammer DDR-Pädagoge war [also, lieber Lairdprotector, auch in Ihrem Sinne von "Einheitswahlzettel der Nationalen Front der DDR"], dass Althaus für seine "hervorragenden Leistungen bei der kommunistischen Erziehung in der Pionierorganisation Ernst Thälmann" mit einer ["DDR"/"SED"-]Medaille GEWÜRDIGT wurde,

    einschl. Prämie (von 500 Mark) ...

    Darüber hinaus [also auch im Sinne von "Mauerstaatspartei SED"] forderte Althaus NOCH AM TAG DES MAUERFALLS, dass die Jugendweihe den "Inhalt einer MARXISTISCH-LENINISTISCHen Weltanschauung haben" muss.

     

    Lieber Lairdprotector, Sie sehen, dass Sie mit Bernhard Vogel grenzenlos-christlicher Heuchlerei aufgesessen sind.

     

    Vielleicht aber - um doch nicht der CDU auf-dem-Leim-zu-gehen - sollten Sie sich besser andere Gedanken machen (?) - Warum nur lehnt sich [auch] B. Vogel so weit aus dem "polit. Fenster", wo doch auch er von der ehem. FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda geführt wird,

    also von einer Funktionärin, die diese polit. "DDR"-Ebene erst durch die SED-Kaderschmiede erlangen konnte! - ? -

     

    - Und jetzt, lieber Lairdprotector, befürchte ich, dass Sie richtig ANGST bekommen werden - WENN Sie nach IM Erika googeln ...

     

    [Warum also verhindert die ehem. FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda, Angela Merkel, die Veröffentl. dieses Photos - aufgenommen am Grundstück von Robert Havemann?]

  • L
    Lairdprotector

    Ein köstlicher Kommentar, lieber "vic". Bei der LINKEN handelt es sich im Kern um die umbenannte Mauerstaatspartei SED samt rudimentären Maoisten/DKP-Narrensaum aus dem Westen. Die DDR läßt grüßen. Dort hatte der Spruch "Würden Wahlen etwas bewirken, wären sie längst verboten" seine volle Berechtigung mit Einheitswahlzettel der "Nationalen Front der DDR" und "falten gehen".

    Schon vergessen?

  • V
    vic

    Der Rat des alten Freundes entbehrt nicht einer gewissen Logik, erfordert aber einen verdammt hohen Preis.

     

    "Würden Wahlen etwas bewirken, wären sie längst verboten"

     

    Mit einer Ausnahme, Linke wählen - immer wieder.