Debatte Gewalt in Sportvereinen: Gegen die Kultur des Wegsehens
Es ist höchste Zeit, etwas gegen die Sexualverbrechen in Sportvereinen zu unternehmen. Deren System macht es Tätern noch einfacher als die Kirche.
W ird die Bedeutungsgröße des Sports verhandelt, dann besteigen dessen oberste Priester gern die Kanzel. Sie predigen von Fairness und Gerechtigkeit, von Respekt und Demut, von der integrativen Kraft und Weltoffenheit, von Freundschaft zwischen Menschen und Völkern, von der Verbindung körperlicher und seelischer Gesundheit. Allein diesen hehren Zielen, verkünden sie, dient der Sport.
Nach den zahlreichen ans Licht gekommenen sexuellen Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche beschleicht jedoch viele die Ahnung, auch der Sport könne von seinem hohen Ross stürzen. Beispielhaft hat der Skandal bei den US-Turnerinnen gezeigt, wie viele jahrelang vergrabene Verbrechen aufgedeckt werden können, wenn sich die Erste findet, die über diese intimsten Verletzungen berichtet.
Im englischen Fußball hat sich wiederum offenbart, wie schnell ein Einzelfall eine Lawine unterschiedlichster Leidensgeschichten ins Rollen bringt, die in diesem Fall auf viele Urheber zurückzuführen sind. Nachdem der ehemalige Fußballprofi Andy Woodward vom Missbrauch durch seinen Jugendtrainer berichtete, meldeten sich in der Zeit danach etwa 800 Opfer bei der britischen Polizei, denen knapp 300 Täter gegenüberstehen.
Auch aufgrund dieser Ereignisse sind in der deutschen Sportfamilie einige mehr wachgerüttelt worden. Prävention wird jetzt groß geschrieben auf den Empfehlungsbroschüren und Konzeptpapieren, die mehr oder meist weniger erfolgreich nach unten an die Vereine herangetragen werden. Ein gutes Engagement, doch es mangelt ihm an Fundament. Es fehlt der Blick zurück, der Wille zur Aufarbeitung und Anerkennung von Leid, das so nur der Sport hat möglich werden lassen.
Sportvereine sind ähnlich wie Kirchen
Es ist höchste Zeit, sich endlich um die Opfer sexueller Vergehen im Sport zu kümmern. So wie die katholische Kirche gerade eine Studie vorgelegt hat, die sich mit ihren Opfern sexuellen Missbrauchs in den letzten 60 Jahren und den systemischen Voraussetzungen für diese Verbrechen beschäftigt, muss auch der Sport systematisch hinterfragen, welche spezifischen Bedingungen ihn vermutlich zu einer attraktiven Plattform für Pädophile machen.
Denn viele Indizien legen nahe, dass der organisierte Sport nach der Kirche die nächste große Institution ist, die aufgrund ihrer etablierten Kultur des Wegsehens einen bedrohlichen Glaubwürdigkeitsverlust erleiden wird. Ähnlich wie in den Kirchen profitieren die Täter auch in den Vereinen davon, dass sie als Vertreter des Sports für das Gute stehen. Nur ist der Weg dorthin noch einfacher. Meist sind es Ehrenamtler, die ein üppiges Maß an Unangreifbarkeit und sehr viel Macht genießen – zumal sie sich oft den Rang der Unersetzbarkeit erarbeiten.
Sie wachen über die Kinderträume von großen Karrieren. Sie können strafen und belohnen, Einzeltraining, Einzelgespräche und besondere Zuwendungen wie Massagen anordnen. Sie haben Zugang zu den Umkleidekabinen und Duschen. Sie verbringen ausreichend Zeit mit den Kindern, um beim Ausschau nach geeigneten Opfern strategisch vorgehen zu können. Abhängigkeitsverhältnisse entstehen mit all ihren bösen Fallstricken. Und es geht per se immer um Körperlichkeit.
Anlässe zur Aufarbeitung gibt es genug
Sollen jetzt alle Ehrenamtler unter Generalverdacht gestellt werden? Dieser Einwand wird gewiss erhoben werden. Wenn jedoch die große Mehrheit der engagierten und rechtschaffenen Mitarbeiter vor einer vergifteten Atmosphäre des Misstrauens geschützt werden sollen, muss man handeln. Es braucht entsprechende Kanäle, damit der Sport von seiner dunklen Vergangenheit nicht erdrückt wird.
Der Deutsche Fußball-Bund hat unterdessen schon Mühe, einen Nationalspieler als Botschafter gegen sexuelle Gewalt zu berufen. Eine entsprechende nun schon fast zwei Jahre alte Anfrage von Johannes-Wilhelm Rörig, dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, ist bis heute nicht beantwortet worden.
Anlässe zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch im Sport gibt es genug. Gern wird dann auf die Autonomie der Verbände verwiesen. Verantwortung kann so ideal verschoben werden. Es bedarf einer zentral gesteuerten Initiative. Zumal, wie bereits erwähnt, das Sichtbarwerden von Opfern häufig große Folgen hat. Dadurch würde auch die Gefahr abgewendet werden, Verbrechen im deutschen Sport wie bislang als Einzelfälle abzuwerten. Als gesellschaftliches Problem, vor dem auch der Sport nicht gefeit ist und dem sich staatliche Institutionen widmen sollten.
Schweigen hilft nicht
Nahezu wöchentlich kann man auch in Deutschland von solchen Einzelfällen im Sport lesen. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Wenn wieder ein Missbrauchsfall zutage tritt, wird gern beschwichtigt, man habe damit nichts mehr zu tun. Die Geschichte sei nun in den Händen der Justiz. Dabei braucht jeder einzelne Fall die Aufmerksamkeit des Sports.
Der vermeintliche Imageschaden ist größer, wenn weggeschaut wird. Bei sexualisierter Gewalt hilft kein Schweigen. Im Fall von Cristiano Ronaldo ist es derzeit geradezu gespenstisch. Eine Vorverurteilung ist natürlich abzulehnen. Genauso aber auch die voreiligen Freisprüche und die Huldigungen, die er weiter aus der Sportfamilie trotz des schweren Vorwurfs erfährt.
Die Familie, das ist auch in der katholischen Kirche trotz der in Auftrag gegebenen Studie bis heute so, hält so lange wie nur möglich zusammen, damit möglichst wenig Rufschädigendes nach außen dringt. Gut hat ihr das nicht getan. Auch der organisierte Sport versteht sich seit jeher als Familie und hat den fast schon manischen Anspruch, Probleme intern zu lösen.
Von diesem engen Denken muss er sich verabschieden. Die systematische Aufarbeitung der Vergangenheit ist nur mit Hilfe von außen möglich. Und wie in der Kirche kann dies nur der Anfang sein.
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