Debatte Gesundheitspolitik: Doktor Unbedarft
Der FDP-Politiker Philipp Rösler ist der Star des neuen Kabinetts. Fragt sich nur, ob der Gesundheitsminister auch Ahnung von seinem Amt hat.
Deutlicher konnte er kaum kundtun, wie unbedarft er seinen neuen Job antritt. Gesundheitsminister Philipp Rösler, zweifellos eine der Überraschungen im neuen schwarz-gelben Kabinett, versprach unmittelbar nach seiner Nominierung, ein robustes Gesundheitswesen zu schaffen, das nicht alle zwei bis drei Jahre reformiert werden müsse. Klingt auf den ersten Blick gut und reiht sich ein in die FDP-typischen populistischen Botschaften. Auf den zweiten Blick lässt seine Äußerung nur einen Schluss zu: Der Mann scheint keine Ahnung von Gesundheitspolitik zu haben. Zumal er allen Ernstes behauptet, die neue Koalition würde das deutsche Gesundheitswesen verbessern, ohne es teurer zu machen.
Der Wunsch nach "der großen Gesundheitsreform", die ein für alle Mal alles regelt, ist verständlich - aber so realistisch wie die Quadratur des Kreises. Schon Norbert Blüm wusste, dass Gesundheitspolitik Wasserballett im Haifischbecken ist. Zudem sorgen nicht nur steter gesellschaftlicher Wandel, sondern jede Reform für ständigen Regulierungs- und Nachbesserungsbedarf. Eine Ideallösung im Sinne des "guten Diktators" aus der Ökonomie zu fordern oder zu versprechen ist ebenso naiv wie gefährlich.
Vordergründig qualifiziert den bisherigen niedersächsischen Wirtschaftsminister sein Beruf für das Amt des Bundesgesundheitsministers. Das ist jedoch ein Hirngespinst, verstehen ÄrztInnen doch im Prinzip nicht mehr von Gesundheitspolitik als ihre PatientInnen. Die auf einzelne Erkrankungsfälle ausgerichtete Sichtweise der Medizin ist kaum geeignet, die komplexen Erfordernisse von Gesundheitssystemen angemessen zu erfassen. Vielmehr verfolgen ÄrztInnen im Gesundheitswesen Standes- und Partialinteressen. In vielen Ländern sitzen traditionell MedizinerInnen auf dem Ministerstuhl, gute Gesundheitspolitik gelingt ihnen aber nur in Ausnahmefällen.
Besonders ein Satz im Koalitionsvertrag dürfte MedizinerInnen freuen, die laut Ärzte Zeitung zu 60 % FDP gewählt haben: "Die Freiberuflichkeit der ärztlichen Tätigkeit ist ein tragendes Prinzip unserer Gesundheitsversorgung und sichert die Therapiefreiheit." Dafür wollen die Liberalen möglichst schnell den pharmakritischen Leiter der Qualitätsbehörde IQWIG absägen, der konsequent für Zulassungs- und Behandlungsstandards eintritt. Der Einsicht, dass die Freiberuflichkeit der niedergelassenen Ärzteschaft und die Pharmaindustrie zu den Kostentreibern in der ambulanten Versorgung gehören, verschließt sich die FDP konsequent. Dabei gereicht die "Therapiefreiheit", die HeilberuflerInnen regelmäßig gegen Behandlungsstandards und Qualitätskontrollen ins Feld führen, regelmäßig PatientInnen zum Schaden, die Opfer von Kunstfehlern und Unwissen werden.
Äußerungen von ÄrztInnen in Politik und berufsständischen Organisationen belegen, dass MedizinerInnen überwiegend nicht zu den VerteidigerInnen des Solidarprinzips gehören. Das gilt wohl auch für Philipp Rösler, der "ein neues Gesundheitssystem" anstrebt. Der Koalitionsvertrag gibt die Richtung vor: "Beitrag und Leistung müssen in einem adäquaten Verhältnis stehen", heißt es dort. Nach diesem Prinzip arbeiten Privatversicherungen, die mit starkem Rückenwind rechnen können. Bei der gesetzlichen Krankenkasse zahlte aber bisher jeder nach seinen Möglichkeiten und erhielt dafür medizinische Versorgung nach Bedarf - und zwar unabhängig vom eingezahlten Beitrag. Setzt Schwarz-Gelb den Vertrag um, ist das nicht nur das Ende sozialer Umverteilung, sondern der sozialen Krankenversicherung in Deutschland.
Rösler ist sich nicht zu schade, in Bild am Sonntag die Standardparole "Wir brauchen mehr Wettbewerb im System" nachzubeten. Schwarz-Gelb will Krankenkassenwettbewerb "als ordnendes Prinzip mit den Zielen der Vielfalt, der Effizienz und der Qualität der Versorgung" beflügeln und den Versicherten mehr Auswahlmöglichkeiten bei der Gestaltung ihrer Krankenversicherung zugestehen. Das garantiert Gesundheit nach Kassenlage: Mit Hartz IV oder einem Minijobgehalt lassen sich schwerlich Zusatzleistungen bezahlen. Ist vielleicht auch besser so - die Renten werden eh nicht zum Überleben reichen.
Überhaupt findet man im Koalitionsvertrag altbekannten und unplattbaren Unsinn - das Wort Lohnzusatzkosten zum Beispiel, ein Fantasiegebilde aus Unternehmerverbänden und wirtschaftswissenschaftlichen Elfenbeintürmen. Würden sich Konservative und Liberale, die sich gerne als Wirtschaftskenner geben, die Mühe machen, nachzurechnen, müssten sie erkennen, dass selbst die völlige Abschaffung des Arbeitgeberbeitrags zur Krankenversicherung die deutschen Weltmarktprodukte nur um wenige Promille billiger machen würde.
In Deutschland ist der Anteil der Arbeits- an den Herstellungskosten sehr niedrig; die Krankenkassenbeiträge machen nur einen minimalen Teil der Arbeitskosten aus. Den Arbeitgeberbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung wie angestrebt einzufrieren wird ein Exportfahrzeug aus deutscher Produktion um ein paar Euro verbilligen, die aber nur in die Unternehmensgewinne fließen und keinen zusätzlichen Arbeitsplatz schaffen.
Was vom Gesundheitsminister einer wirtschaftsliberalen Partei zu erwarten ist, der irgendwo zwischen Wolfenkuckucksheim und Schilda unterwegs zu sein scheint, stimmt bedenklich. Herr Rösler wird sich seine jugendlich-unbedarften Hörner abstoßen und im Laufe der Jahre lernen, dass Gesundheitspolitik anders geht, als er sich das vorzustellen scheint. Doch die 85 Prozent der Deutschen, die nicht die Liberalen gewählt haben, müssen diesen individuellen Lernprozess teuer bezahlen.
Privatversicherte und Bessergestellte können sich dagegen entspannt zurücklehnen. Und wer im Gesundheitswesen zur Leistungselite gehört, kann in Zukunft sogar noch mehr absahnen als bisher. Da stört es auch nicht, wenn alles am Ende doch viel teurer wird. Denn das Geld fällt ja nicht in ein schwarzes Loch - sondern in die Taschen von ÄrztInnen, ApothekerInnen und der Hersteller von Pharma- oder Medizingeräten.
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