Debatte 20 Jahre Srebrenica: Es war Faschismus
Solange die serbischen Eliten einer Aufarbeitung aus dem Weg gehen, wird es keine Versöhnung geben. Zeit allein heilt nicht alle Wunden.
Die Trauerfeiern in Srebrenica wurden in den letzten 15 Jahren zu einem Ritual. Die hohen Diplomaten und Politiker sprachen stets vom „größten Verbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg“, wollen niemals vergessen und die Täter fassen. Doch es fehlte meist die Empathie, stattdessen klang es verlogen. Das Gros der Kriegsverbrecher wurde nicht verhaftet.
Immerhin haben in diesem Jahr wenigstens die Briten dem Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Resolution vorgelegt, die Ross und Reiter nennt und aufzeigt, wer für welche Tat die Verantwortung trägt. Der Aufschrei in Serbien und der serbischen Teilrepublik in Bosnien ist natürlich groß. Weil das Dokument den Massenmord an 8.372 bosniakischen Männern und Jugendlichen in Srebrenica als „Völkermord“ einstuft, verstehen die serbischen nationalistischen Eliten dies als Provokation.
Die Reaktionen reichen von totaler Leugnung des Geschehens, der Rechtfertigung: „Hätten wir es nicht getan, dann hätten die uns umgebracht“, bis hin zu dem Versuch, die serbischen Opfer in der Region mit 3.500 Toten so hochzurechnen, dass man auf eine ähnliche Dimension wie bei den Bosniaken kommt. Die serbischen Eliten wollen sich nicht mit der Wirklichkeit konfrontieren. Würden sie es tun, würde die den serbischen Nationalismus konstituierende Ideologie, immer nur Opfer der Geschichte zu sein, nicht weiter aufrechterhalten werden können.
Die volle Wahrheit anzuerkennen, wie dies bisher nur isolierte, aber mutige serbische Intellektuelle tun, bedeutete zudem, die Frage der Kriegsschuld neu aufzuwerfen. So versucht man alles, den Verbündeten Russland dazu zu verpflichten, die britische Resolution im Weltsicherheitsrat mit dem russischen Veto zu Fall zu bringen. Um gleichzeitig die Beitrittsverhandlungen mit der EU nicht zu gefährden, will der Premierminister Vučić persönlich am Samstag nach Srebrenica kommen, um sich „vor den Opfern zu verbeugen“.
Gräbt man aber etwas tiefer in der Geschichte des Bosnienkrieges, stehen die Serben mit diesem Eiertanz nicht ganz so allein. Die britische Rolle im Rahmen der UN-Mission während des Krieges ist nach wie vor fragwürdig. Eine selbstkritische Betrachtung müsste benennen, dass Großbritannien gemeinsam mit Frankreich und Russland direkt und indirekt die serbische Seite im Krieg unterstützt haben. Briten und Franzosen bestanden auf dem Waffenembargo gegenüber den Verteidigern – die Angreifer verfügten über genug Waffen und Waffenproduktion.
Schuld der Internationalen
Die Briten waren es, die durchsetzten, dass ab 1993 in der internationalen Sprachregelung nicht mehr von einer Aggression Serbiens gegen Bosnien gesprochen wurde, sondern von einem Bürgerkrieg. Und sie waren führend beteiligt bei der Verhinderung eines Bombenangriffs durch die Nato auf die vorrückenden serbischen Truppen in Srebrenica.
Immerhin symbolisiert der britische Vorstoß, dass die jetzt führenden Politiker und Diplomaten in Europa und den USA bereit sind, über die eigenen Schuldzusammenhänge in der damaligen internationalen Gemeinschaft zu sprechen. Zwar werden die wichtigsten Dokumente, die zur weiteren Aufklärung der Vorgänge von damals beitragen könnten, immer noch zurückgehalten – sowohl die USA als auch Frankreich und Großbritannien, die Niederlande und die UNO halten sie weitgehend unter Verschluss.
Doch man hat schon jetzt Beweise genug: Alle in Bosnien und Herzegowina beteiligten Mächte und die UNO haben im Vorfeld des Genozids von Srebrenica Schuld auf sich geladen, weil sie um des „Friedens“ willen einen Kompromiss mit den Kriegstreibern und Mördern angestrebt haben.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titoregime wiedererstandene tolerante, multireligiöse, bis in die Familien hinein gemischte Gesellschaft auseinanderzureißen, war das erklärte Ziel der serbischen, aber auch der kroatischen Nationalisten. Beide Seiten sahen in dem „Jugoslawien im Kleinen“ ein Hindernis für die Etablierung und territorialen Expansion ihrer Art von „Nationalstaat“. Mit dem Dayton-Abkommen 1995 wurden die serbischen Extremisten sogar noch mit der Hälfte des Landes belohnt.
Ein tolerantes, multinationales Bosnien durfte nicht bestehen bleiben. Ein Verbrechen von der Dimension Srebrenicas kann nur geschehen, wenn die Opfer als „Untermenschen“, als unwertes Leben definiert werden, die im Namen einer „höherwertigen Nation“ zu eliminieren sind. Das ist passiert. Das ist Faschismus.
Multireligiöse Tradition lebt
Diese Erkenntnis darf man der serbischen Öffentlichkeit nicht ersparen. Dass ausgerechnet in Sarajevo mit seiner muslimischen Bevölkerungsmehrheit die Zukunft eines modernen, weltoffenen Europas verteidigt wurde, sollte endlich in der europäischen Öffentlichkeit akzeptiert werden. Mit dem letzten Krieg wurde Bosnien und Herzegowina zwar in von nationalistischen und korrupten Eliten dominierte Stücke gerissen. Doch die jahrhundertelange Tradition ist nicht völlig unterzukriegen.
In den ehemals von den bosniakischen Verteidigern kontrollierten Gebieten – so in Tuzla und Sarajevo – ist multinationales Leben nach wie vor möglich. Selbst in der serbischen Teilrepublik beginnen die Jugendlichen die Eltern mit Fragen über die Vergangenheit zu löchern, stellen Intellektuelle und Menschenrechtler den nationalen Konsens in Frage. Die Zeit heilt nicht alle Wunden.
Es ist den muslimischen Bosniaken hoch anzurechnen, dass es nach dem Krieg zu keinerlei Racheakten kam. Die Opfer zeigen keinen Hass. Doch die Enttäuschung über die internationale Politik und die Erfahrungen des Genozids haben bei großen Teilen dieser Bevölkerungsgruppe zu Abgrenzungen gegenüber den „Christen“ geführt. Versöhnungsappelle, wie im britischen Dokument enthalten, laufen ins Leere.
Eine wirkliche Versöhnung ist erst möglich, wenn die serbische Gesellschaft insgesamt bereit ist, eine Katharsis zu durchlaufen. Die Frage, will Serbien wirklich in die EU oder sieht es die Zukunft an der Seite Russlands, ist noch nicht beantwortet. An der Seite Moskaus muss die serbische Gesellschaft sich nicht verändern, an der Seite Europas schon.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs